Die Frau mit dem roten Herzen
verheiratete Frau mit Kind auszusuchen, die nicht einmal mehr hübsch war, dazu fürchtete er zu sehr die Kommentare anderer.
Nach Shanghai zurückgekehrt, reichte er seine Reportage ein. Sein Chef fand sie poetisch. »Eine revolutionäre Poliererin poliert das Antlitz unserer Gesellschaft auf Hochglanz.« Die Metapher wurde vielfach zitiert. Die Reportage war wohl auch in der Fujianer Lokalpresse nachgedruckt worden, und er fragte sich, ob sie sie gelesen hatte. Er dachte daran, ihr zu schreiben. Doch was hätte er sagen können? Statt dessen verarbeitete er seine Erlebnisse in einem Gedicht, das in der Zeitschrift Sterne veröffentlicht und zum besten Gedicht des Jahres gekürt wurde.
Dieser Vorfall nahm ihm seine Illusionen über den Journalistenberuf und trug dazu bei, daß er bei der Zeitung kündigte. Er hätte keinen besseren Zeitpunkt wählen können, denn in den frühen achtziger Jahren waren noch nicht viele bereit, die Sicherheit der eisernen Reisschale, also die Anstellung in einem staatseigenen Betrieb, aufzugeben. Das gab ihm gute Startbedingungen, und die guanxi, die er sich während seiner Zeit als Wenhui-Reporter verschafft hatte, halfen ebenfalls. Er verdiente unheimlich viel Geld. Dann traf er die Studentin Zhenzhen. Sie verliebte sich in ihn, sie heirateten, bekamen im Jahr darauf eine Tochter, und seine Geschäfte florierten. Als die Anthologie mit den besten Gedichten schließlich erschien, hatte er keine Zeit mehr für Lyrik. Aus einem Impuls heraus schickte er Wen ein Exemplar zusammen mit seiner Visitenkarte. Er erhielt keine Antwort, aber das hatte er auch gar nicht erwartet.
Einmal bat er einen Geschäftsmann aus Fujian, ihr anonym dreitausend Yuan zukommen zu lassen. Aber sie nahm das Geld nicht an. Sein täglicher Geschäftsalltag ließ ihm keine Zeit für Gefühle, und er glaubte, sie vergessen zu haben.
Um so erstaunter war er, als sie vor einigen Tagen plötzlich in sein Büro trat. Sie hatte sich sehr verändert, man hätte sie für eine ganz normale Bauersfrau halten können. Doch vor seinem geistigen Auge war sie noch immer die Sechzehnjährige von damals; dasselbe ovale Gesicht, dieselbe Zärtlichkeit im Blick, dieselben schlanken Finger, die seinerzeit das rote Pappherz hochgehalten hatten. Er hatte nicht eine Sekunde lang gezögert. Sie war ihm im dunkelsten Augenblick seines Lebens zu Hilfe gekommen. Jetzt war die Reihe an ihm.
Liu hielt inne und nahm einen Schluck Tee.
»Dann ist sie für Sie also eine Art Symbol Ihrer verlorenen Jugend«, sagte Chen. »Daher ist es gleich gültig, daß sie nicht länger jung und hübsch ist.«
»Im Gegenteil, die Veränderung ihres Äußeren macht es nur um so anrührender.«
»Und um so romantischer.« Chen nickte. »Was hat sie Ihnen über sich erzählt?«
»Daß sie sich für ein paar Tage aus dem Dorf fernhalten muß.«
»Haben Sie sie nach dem Grund gefragt?«
»Sie sagte, daß sie Feng nicht in die Vereinigten Staaten folgen wolle, aber befürchte, keine andere Wahl zu haben.«
»Was meinte sie damit?« wollte Chen wissen. »Wenn sie keine Wahl hatte, warum hat sie dann die weite Reise zu Ihnen gemacht?«
»Ich wollte sie nicht bedrängen. Sie brach während unseres Gesprächs ein paarmal in Tränen aus. Ich denke, es ist wegen ihrer Schwangerschaft.«
»Dann hat sie Ihnen ihre Beweggründe also nie wirklich erklärt?«
»Jedenfalls muß sie welche gehabt haben. Vielleicht wollte sie sich über ihre Zukunft klar werden und konnte das in ihrem Dorf nicht.«
»Hat sie mit Ihnen über ihre Pläne gesprochen?«
»Nein. Sie scheint es nicht eilig zu haben.« Dann fügte er nachdenklich hinzu: »Nachdem sie mit einem Monster wie Feng verheiratet ist, wundert es mich nicht, daß sie ihre Absichten geändert hat.«
»Tja …« Chen spürte, daß es nutzlos war, weiter in Liu zu dringen. Er hätte sie auch ohne jede Erklärung bei sich aufgenommen. »Ich will Ihnen etwas erzählen, das Sie offenbar noch nicht wissen. Sie ist aus dem Dorf geflohen, nachdem sie einen Anruf von Feng bekam, der ihr sagte, ihr Leben werde von Gangstern bedroht.«
»Das hat sie mir nicht erzählt. Ich habe sie nicht gefragt, und sie war nicht dazu verpflichtet.«
»Es ist verständlich, daß sie Ihnen nicht alles gesagt hat, aber wir wissen, daß sie mit der Absicht kam, ein paar Tage hierzubleiben – nicht um nachzudenken, sondern um sich vor der örtlichen Geheimgesellschaft zu verstecken.«
»Ich bin froh, daß sie sich in ihrer Not an mich
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