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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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werde oben im Arbeitszimmer auf dich warten.«
    »Aber was ist mit dem Karpfen? Der Fisch wird ja kalt. Es ist doch dein Leibgericht.«
    Es war eine Kleinigkeit, aber doch von Bedeutung, sagte sich Chen, daß Wen in einem solchen Moment an Lius Leibgericht dachte. War sie sich bewußt, daß es womöglich das letzte Essen war, das sie für ihn gekocht hatte?
    »Keine Sorge, Wen. Wir können ihn später aufwärmen«, sagte Liu. »Oberinspektor Chen hat versprochen, daß er dich nicht zu einer Entscheidung drängen wird. Wenn du bleiben möchtest, so bist du hier immer willkommen.«
    »Unterhalten wir uns, Wen«, sagte Chen.
    Wen verlor die Beherrschung, kaum daß Liu den Raum verlassen hatte. »Was hat er Ihnen gesagt?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme und zog schluchzend die Luft ein.
    »Dasselbe, was er auch in Ihrer Gegenwart gesagt hat.«
    »Dann habe ich nichts hinzuzufügen«, entgegnete Wen starrköpfig und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. »Sie können mir erzählen, was Sie wollen.«
    »Als Polizist habe ich eine Informationspflicht dem Präsidium gegenüber. Ich muß überzeugend darlegen, warum Sie sich weigern auszureisen, sonst wird die Sache nicht zu den Akten gelegt.«
    »Das stimmt, Wen. Wir müssen Ihre Beweggründe kennen«, schaltete Catherine sich ein und reichte Wen eine Papierserviette für die Tränen.
    »Auch Ihre Anwesenheit in Lius Haus bedarf einer Erklärung«, fuhr Chen fort. »Falls es in dieser Hinsicht Mißverständnisse gibt, wird Liu Probleme bekommen, und das wollen Sie doch nicht.«
    »Wer könnte ihm etwas vorwerfen? Das ist doch meine Entscheidung.« Wens Stimme versagte, und wieder barg sie das tränenüberströmte Gesicht in den Händen.
    »Das kann man sehr wohl. Als Oberinspektor weiß ich, wie unangenehm das für ihn werden kann. Diese Ermittlungen werden von China und Amerika gemeinsam durchgeführt. Es ist nicht nur in Ihrem, sondern auch in Lius Interesse, daß Sie mit uns reden.«
    »Und was soll ich sagen?«
    »Erzählen Sie einfach von Anfang an, vom Zeitpunkt Ihres Schulabschlusses«, sagte er, »damit ich mir ein möglichst genaues Bild machen kann.«
    »Wollen Sie wirklich hören, was ich all die Jahre durchgemacht habe …« Wen konnte vor Schluchzen kaum sprechen. »An der Seite dieses Monsters?«
    »Wir verstehen, wie schmerzlich es für Sie sein muß, darüber zu reden, aber es ist sehr wichtig.« Catherine schenkte ihr ein Glas Wasser ein, und Wen nickte ihr dankbar zu.
    Chen bemerkte, daß die beiden sich jetzt besser zu verstehen schienen. Er wußte ja nicht, worüber sie gesprochen hatten, aber Wens anfängliche Feindseligkeit gegenüber Catherine war offenbar überwunden. An Catherines Finger prangte ein frisches Heftpflaster. Nun war er sich sicher, daß sie beim Kochen geholfen hatte.
    Dann begann Wen, mit monotoner Stimme zu berichten, so als erzähle sie die Geschichte einer anderen Person. Ihr Gesicht blieb ausdruckslos, ihr Blick leer, nur ihr Körper zuckte manchmal unter lautlosem Schluchzen.
    Als die Landverschickungsbewegung China 1970 überrollte, war Wen gerade fünfzehn. Bei ihrer Ankunft im Dorf Changle mußte sie feststellen, daß in dem Drei-Generationen-Haushalt ihrer Verwandten beim besten Willen kein Platz mehr für sie war. Da sie die einzige landverschickte Oberschülerin im Dorf war, wies ihr das Revolutionskomitee der Volkskommune von Changle, dem Feng vorsaß, einen ungenutzten Geräteraum neben der Dorfscheune zu. Es gab dort weder Elektrizität noch Wasser und außer einem Bett auch keine Möbel, doch sie glaubte ja an Maos Aufruf, daß die gebildete städtische Jugend durch das entbehrungsreiche Landleben umerzogen werden sollte. Feng allerdings entpuppte sich nicht als der typische Vertreter der armen und unteren Mittelbauern aus Maos Theorie.
    Zunächst bat er sie zu Gesprächen in sein Büro. Als leitender Kader war er berechtigt, politische Belehrungen zu erteilen, die der Umerziehung der jungen Leute dienen sollten. Sie mußte ihn drei- oder viermal wöchentlich aufsuchen, wobei die Tür seines Büros geschlossen blieb. Feng hockte wie ein Affe in Menschenkluft auf seinem Stuhl und begrapschte sie über dem aufgeschlagenen roten Büchlein mit den Worten des Vorsitzenden Mao. Eines Tages passierte, was sie längst befürchtet hatte. Feng drang in den Raum neben der Scheune ein. Sie wehrte sich, doch er war stärker. Danach kam er fast jede Nacht. Niemand im Dorf wagte zu protestieren. Er hatte nie daran gedacht, sie zu

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