Die Frau mit dem roten Herzen
Verbrechen.
»Jetzt, wo unsere Mission beendet ist, brauchen uns solche Fragen nicht mehr zu kümmern«, entgegnete er.
»Und auch nicht die Antworten darauf.« Sie spürte, daß er nicht bereit war, weiter darüber zu reden.
Ihr Kommentar klang wie eine sarkastische Replik aufsein Gedicht in den Gärten von Suzhou.
Er fühlte ihre unmittelbare Nähe, und doch war sie so weit entfernt von ihm.
Chen schaltete das Autoradio an. Der Lokalsender sendete im Fujian-Dialekt, von dem er nicht ein Wort verstand.
Endlich kam der Flughafen in Sicht.
Als sie sich der Halle für Inlandsflüge näherten, sahen sie einen Straßenhändler in taoistischer Robe, der seine Waren auf einem am Boden ausgebreiteten Tuch feilbot. Er hatte ein vielfältiges Angebot an getrockneten Kräutern sowie einige aufgeschlagene Bücher, Broschüren und Abbildungen vor sich liegen. Sie alle erläuterten die Heilwirkung der heimischen Kräuter. Der begnadete Kleinunternehmer trug einen weißen Bart, der perfekt zum Bild eines taoistischen Einsiedlers paßte, der in wolkenverhangenen Bergen nach Kräutern sucht, sich dem Trubel der Welt durch Meditation entzieht und ein langes Leben im Einklang mit der Natur genießt.
Er richtete ein paar Worte an sie, doch weder Catherine noch Chen verstanden ihn. Als er ihre fragenden Blicke bemerkte, sprach er sie auf mandarin an.
»Hier, sehen Sie. Fuling-Pilze, eine Spezialität aus Fujian, die Ihrem Körper Kraft und Energie verleiht«, erklärte er.
Der Taoist erinnerte Chen an den Wahrsager in dem Tempel in Suzhou. Ironischerweise hatte sich dessen kryptisches Gedicht doch noch bewahrheitet.
Als sie die Halle betraten, wurde gerade der nächste Flug angesagt, erst auf mandarin, dann im Fujian-Dialekt und schließlich auf englisch.
Da kam Chen eine Erkenntnis.
Etwas lief hier grundlegend falsch.
»Verdammt!« stieß er hervor und sah auf seine Uhr. Es war zu spät.
»Was ist, Oberinspektor Chen?«
»Nichts«, sagte er.
35
D IE E INLADUNG zum Abendessen war Hauptwachtmeister Yus Idee; genauer gesagt war sie ihm von Oberinspektor Chen eingegeben worden. Chen hatte beiläufig erwähnt, daß Inspektor Rohn gern das Heim einer chinesischen Familie besuchen würde, und hinzugefügt, daß eine Junggesellenwohnung wie die seine sich dazu schlecht eigne. Mehr hatte er seinem Assistenten nicht sagen müssen.
Kaum nach Shanghai zurückgekehrt, hatte Yu Peiqin in seine Pläne eingeweiht. »Inspektor Rohn fliegt morgen nachmittag. Es kommt also nur heute abend in Frage.«
»Aber du bist doch eben erst angekommen.« Peiqin reichte ihm ein feuchtwarmes Tuch aus einem grünen Plastikbehälter. »Die Zeit ist viel zu knapp. Da kann ich doch gar nichts mehr vorbereiten. Noch dazu für eine Amerikanerin.«
»Ich habe sie aber schon eingeladen.«
»Du hättest mich zumindest vorher anrufen können.« Peiqin schenkte ihm eine Schale Jasmintee ein. »Unser Zimmer ist so klein. Eine Ausländerin kann sich da nicht mal umdrehen.«
Yus Zimmer lag am Südende des Ostflügels der Wohnung, die seinem Vater, dem Alten Jäger, Anfang der fünfziger Jahre zugewiesen worden war. Jetzt, vierzig Jahre später, beherbergten die vier Zimmer vier Familien. Daher mußte jeder Raum als Schlaf-, Eß- und Badezimmer dienen. Yus Zimmer war früher einmal das Eßzimmer gewesen und eindeutig ungeeignet, um Gäste zu empfangen. Der angrenzende Raum, das ehemalige Wohnzimmer, hatte die einzige Tür zum Flur; ein Gast mußte also durch das Zimmer des Alten Jägers, wenn er zu ihnen wollte.
»Na ja, das ist doch nicht so schlimm«, beschwichtigte Yu. »Sie hat Sinologie studiert. Und vielleicht hat sie was mit Oberinspektor Chen.«
»Wirklich?« Sofort schlich sich echtes Interesse in Peiqins Stimme. »Aber Chen hat doch diese Freundin aus der Pekinger Prominenz.«
»Da bin ich mir nicht mehr so sicher – nicht nach dem Fall Baoshen. Erinnerst du dich, wie er damals in die Gelben Berge gefahren ist?«
»Ja, das hast du erzählt. Und du meinst, er hätte mit ihr Schluß gemacht?«
»Ziemlich kompliziert, das Ganze. Da spielt Politik mit hinein. Der Ausgang des Falls war für ihren Vater ziemlich unangenehm. Soweit ich gehört habe, hat das seine Beziehung zu ihr belastet. Außerdem leben sie in zwei verschiedenen Städten.«
»Das tut nie gut. Mir war schon die eine Woche zu lang, die du jetzt weg warst. Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie auf diese Weise ihre Beziehung aufrechterhalten können.« Peiqin nahm ihm das
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