Die Frau mit dem roten Herzen
Zweifel, die Chen schon am Anfang der Ermittlungen gehegt hatte, regten sich erneut. Wens Verschwinden war zwar nicht von oben veranlaßt worden, doch war er sich mittlerweile nicht mehr sicher, ob den Behörden wirklich daran gelegen war, sie an die Amerikaner auszuliefern. Was Chen nun zu tun übrigblieb, glich wohl eher einem traditionellen Schattenspiel mit der entsprechend lebhaften Geräuschkulisse und Dramatik, aber wenig Inhalt. Doch in seinem Bestreben, ein vorbildlicher chinesischer Oberinspektor zu sein, war er längst hinter der Bühne hervorgetreten.
Eventuell lag die Schießerei im Dorf tatsächlich außerhalb des Machtbereichs der örtlichen Polizei, wie ihm Dienststellenleiter Hong zu verstehen gegeben hatte.
Vielleicht waren die Anordnungen »auf höchster Ebene« getroffen worden.
Doch das wollte er lieber nicht glauben.
Die Wahrheit würde er vermutlich nie erfahren. Am besten gab er sich mit der Rolle eines dieser hirnlosen chinesischen Bullen aus den Hollywood-Filmen zufrieden und vermittelte auch Inspektor Rohn den Eindruck, er sei ein solcher.
Er konnte ihr seinen Verdacht nicht anvertrauen, denn sonst würde ein weiterer Bericht der Inneren Sicherheit auf Parteisekretär Lis Schreibtisch landen, noch bevor er selbst in Shanghai eingetroffen wäre.
»Der Fall ist abgeschlossen«, erklärte Hong mit eilfertigem Lächeln; er schien nur allzu bestrebt, das Thema zu wechseln. »Sie haben Wen gefunden. Alles ist gut. Ein Grund zum Feiern. Nur die beste Fujian-Küche, ein Bankett mit hundert Fischen aus dem Südchinesischen Meer.«
»Nein danke, Dienststellenleiter Hong«, entgegnete Chen. »Aber ich muß Sie um einen Gefallen bitten.«
»Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, Oberinspektor Chen.«
»Wir müssen unverzüglich nach Shanghai zurück. Die Zeit wird knapp.«
»Kein Problem. Wir können direkt zum Flughafen fahren. Nach Shanghai gehen mehrere Flüge pro Tag. Sie können den nächsten nehmen. Ich bin sicher, daß noch Plätze frei sein werden.«
Hong und seine Leute fuhren im Jeep voraus. Yu folgte mit Wen in dem Wagen, den er sich am Flughafen besorgt hatte. Chen beschloß die Kolonne mit Catherine im Dazhong.
Die Tüte mit den restlichen Lychee lag noch auf dem Sitz, doch die Früchte hatten ihre Frische verloren. Einige wirkten mehr schwärzlich als rot. Oder hatte sich weniger die Farbe der Lychee als vielmehr Chens Stimmung geändert?
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Was denn?«
»Ich hätte Wens Wunsch nicht unterstützen sollen.«
»Ich habe mich ja auch nicht dagegen ausgesprochen«, sagte er. »Ich muß mich ebenfalls entschuldigen, Inspektor Rohn.«
»Und wofür?«
»Für alles.«
»Wie konnte die Bande uns so schnell aufspüren?«
»Das ist eine gute Frage.« Mehr sagte er nicht. Es war eine Frage, die Dienststellenleiter Hong zu beantworten hatte.
»Sie haben von Suzhou aus das Präsidium in Fuzhou angerufen«, sagte sie ruhig. Der entsprechende Ausdruck im Tai Chi lautete: Es genügt, den Punkt zu berühren. Sie brauchte nicht tiefer zu bohren.
»Das war mein Fehler. Aber Wen habe ich dabei nicht erwähnt.« Er war verwirrt. Nur die Polizei in Suzhou hatte gewußt, daß Wen bei ihnen war. Dennoch fuhr er fort: »Vielleicht hat jemand im Dorf die Banditen verständigt, nachdem wir dort eintrafen. Das ist zumindest Hongs Theorie.«
»Vielleicht.«
»Ich kann die Verhältnisse hier schlecht einschätzen.« Er ertappte sich dabei, daß er ähnlich ausweichend mit ihr redete wie Hong mit ihm. Doch was hätte er sagen sollen? »Vielleicht hat die Bande auf Wen gewartet; so wie der alte Bauer, der darauf wartete, daß ein Kaninchen gegen seinen Baum rannte.«
»Alte Bauern hin oder her, die Fliegenden Äxte waren jedenfalls zur Stelle, die Polizei nicht.«
»Es gibt da noch ein Sprichwort: ›Auch der mächtigste Drache kann gegen einheimische Schlangen nichts ausrichten^«
»Eines möchte ich doch wissen. Warum waren die einheimischen Schlangen nur mit Äxten bewaffnet, Oberinspektor Chen?«
»Vermutlich wurden sie überraschend alarmiert und nahmen, was gerade an Waffen zur Hand war.«
»Überraschend? Das glaube ich nicht. Dazu waren es zu viele, und außerdem trugen sie Masken.«
»Da haben Sie recht«, sagte er. Und ihre Bemerkung provozierte gleich die nächste Frage. Warum hatten sie es für nötig gehalten, sich zu maskieren? Ihre Äxte verrieten ohnehin, wer sie waren. Wie bei der Leiche im Bund-Park handelte es sich um ein signiertes
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