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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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weigerte sich, die Unordnung im Zimmer als peinlich zu empfinden. Das Bett war ungemacht, ihre Strümpfe waren auf dem Bettvorleger verstreut, auf dem Nachttisch lagen Pillenschachteln, und ihren verknitterten Hosenanzug hatte sie über eine Stuhllehne geworfen. »Ich mußte ein Fax abholen«, entschuldigte sie sich kurz.
    »Ich hätte mich vorher anmelden sollen. Ich muß mich entschuldigen.«
    »Sie sind sehr zuvorkommend, Genosse Oberinspektor Chen«, erwiderte sie und versuchte, ihre Stimme nicht sarkastisch klingen zu lassen. »Ich könnte mir vorstellen, daß auch Sie gestern spät ins Bett gekommen sind.«
    »Nachdem ich Sie verlassen hatte, habe ich den Fall mit Hong Liangxing, dem Dienststellenleiter der Provinzpolizei Fujian, durchgesprochen. Es war ein langes Gespräch. Früh am Morgen hat mich dann mein Assistent, Hauptwachtmeister Yu, angerufen. Er sagte mir, daß es in seinem Hotel nur ein einziges Telefon gibt, und das steht an der Rezeption. Um elf Uhr abends wird es vom Hotelinhaber abgeschlossen, der anschließend ins Bett geht.«
    »Warum muß er das Telefon abschließen?«
    »Auf dem Land sind Telefone rar«, erklärte Chen. »Das ist nicht wie hier in Shanghai.«
    »Gibt es heute morgen neue Informationen?«
    »Ich konnte immerhin eine Antwort auf Ihre Frage nach der Verzögerung des Paßantrags erhalten.«
    »Und die lautet, Oberinspektor Chen?«
    »Wen hätte ihren Paß schon vor mehreren Wochen bekommen können, aber sie hatte keine Heiratsurkunde, kein amtliches Dokument, das ihre Beziehung zu Feng hätte bestätigen können. Sie ist 1971 bei ihm eingezogen. Alle Ämter waren damals geschlossen.«
    »Warum waren die Ämter geschlossen?«
    »Mao hat viele Kader als sogenannte ›Kap-Wegler‹, also kapitalistische Renegaten, abgestempelt. Sogar Liu Shaoqi, der damalige designierte Nachfolger Maos, wurde ohne Gerichtsverhandlung ins Gefängnis geworfen. Die sogenannten Revolutionskomitees hatten die Macht im Staat übernommen.«
    »Ich habe über die Kulturrevolution gelesen, aber das mit den Ämtern war mir nicht bekannt.«
    »Daher mußten die Leute vom Paßamt in den Archiven der Kommune nachforschen, was den Vorgang vermutlich verzögert hat.«
    »Vermutlich«, wiederholte sie und bog den Kopf dabei leicht zur Seite. »In China muß also jede Vorschrift aufs genaueste befolgt werden – auch wenn es sich um einen besonderen Fall handelt?«
    »Ich gebe nur weiter, was ich erfahren habe. Außerdem hat Wen ihren Antrag erst Mitte Februar gestellt, nicht schon im Januar.«
    »Aber Feng hat uns gesagt, daß sie ihn im Januar beantragt hätte, Mitte Januar.«
    »So lautet meine Information. In jedem Fall ist es eine lange Zeit, das gebe ich zu. Vielleicht haben andere Dinge eine Rolle gespielt. Wen hat keine guanxi in Fujian. Man könnte dieses Wort mit ›Beziehungen‹ übersetzen, aber guanxi bedeutet noch weit mehr. Es geht nicht nur um die Leute, die man kennt, sondern vor allem um Leute, die einem bei den eigenen Belangen weiterhelfen können.«
    »Die Schmiere, die die Räder am Laufen hält, sozusagen.«
    »Wenn Sie so wollen, ja. Und die Räder der Bürokratie laufen überall auf der Welt langsam, wenn nicht ein bißchen Schmiermittel für die Bürokraten im Spiel ist. Dazu braucht man guanxi. Wen ist all die Jahre eine Außenseiterin geblieben, also verfügte sie über keinerlei guanxi.«
    Chens Offenheit überraschte sie. Er machte nicht den Versuch, die Korruptheit des Systems zu verschleiern. Das schien ihr nicht unbedingt typisch für einen »aufstrebenden Parteikader«.
    »Ach, da ist noch etwas anderes. Eine Nachbarin hat ausgesagt, daß am Nachmittag des sechsten April ein Fremder nach Wen gesucht hat.«
    »Wer könnte das gewesen sein?«
    »Seine Identität konnte noch nicht festgestellt werden, aber es war mit Sicherheit kein Einheimischer. Gibt es Neues von Ihrer Seite, Inspektor Rohn?«
    »Feng hat am fünften April telefoniert. Wir sind dabei, das Gespräch zu übersetzen und zu analysieren. Ich werde Sie informieren, sobald ich Genaueres erfahre.«
    »Darin mag die Antwort für Wens Verschwinden liegen«, sagte Chen und blickte auf seine Uhr. »Was sind Ihre Pläne für den Vormittag?«
    »Ich habe keine Pläne.«
    »Haben Sie schon gefrühstückt?«
    »Nein, noch nicht.«
    »Sehr gut. Dann sieht mein Plan als erstes ein gutes Frühstück vor«, sagte Chen. »Nach meinem langen Gespräch mit Hauptwachtmeister Yu heute morgen bin ich ohne Frühstück aus dem Haus

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