Die Frau mit dem roten Herzen
sie. »Und was soll ich tun, bis Sie seine Erlaubnis eingeholt haben?«
»Falls Wens Verschwinden durch den Anruf ihres Mannes ausgelöst wurde, dann sollten Sie sich um mögliche Lecks in Ihrer Abteilung kümmern.«
»Ich werde mit meinem Vorgesetzten reden«, antwortete sie. Sie hatte schon erwartet, daß er etwas Derartiges sagen würde.
»Ich habe das Hotelpersonal gebeten, Ihr Zimmer mit einem Faxgerät auszustatten. Und lassen Sie es mich bitte wissen, falls Sie noch etwas anderes benötigen.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Nur eine Frage noch«, sagte sie, einer spontanen Eingebung folgend, »gestern nacht, als ich auf den Bund hinunterschaute, ist mir ein klassisches Gedicht in den Sinn gekommen. Ich habe es Vorjahren in englischer Übersetzung gelesen. Es handelt von dem Bedauern des Dichters, den Anblick einer herrlichen Landschaft nicht mit der Freundin teilen zu können. Leider weiß ich den genauen Wortlaut nicht mehr. Kennen Sie vielleicht zufällig dieses Gedicht?«
»Hm …« Er blickte sie erstaunt an. »Das könnte von Liu Yong sein, einem Dichter aus der Song-Dynastie. Die zweite Strophe lautet:
Wo werd’ ich heut nacht erwachen /
aus meinem Rausch – /
Das Flußufer, von Trauerweiden gesäumt /
Der Mond im Abstieg, Dämmerung steigt
aus der Brise. /
Jahr um Jahr bin ich fern / fern von Dir. /
Die herrliche Szenerie entfaltet sich nutzlos vor mir./
Wem soll ich sprechen von dieser herrlichen Landschaft.«
»Genau! Das ist es!« Sie war verblüfft, welche Veränderung mit ihm vorgegangen war. Seine Züge hatte sich aufgehellt, während er das Gedicht rezitierte.
Die Informationen des CIA schienen glaubhaft. Er war Oberinspektor und Dichter zugleich – zumindest war er mit Eliot ebenso vertraut wie mit Liu Yong. Das faszinierte sie.
Chen sagte: »Liu ist einer meiner Lieblingsdichter aus der Vor-Eliot-Zeit.«
»Was begeistert Sie so an Eliot?«
»Er kann sich nicht entscheiden, ob er seine Liebe erklären soll. Zumindest in The Love Song of J. Alfred Prufrock.«
»Dann hätte Eliot ja einiges von Liu lernen können.«
»Und ich sollte jetzt besser Parteisekretär Li aufsuchen«, sagte er und erhob sich lächelnd.
An der Kreuzung Sichuan Lu mußten sie auf die Straße ausweichen, weil der Gehweg von unerlaubt geparkten Fahrrädern versperrt wurde. Sie wollten sich gerade zum Abschied die Hände geben, als Catherine einen Motorradfahrer in schwarzen Jeans und schwarzem T-Shirt gewahrte, dessen Gesicht von einem dunklen Helm verdeckt wurde. Er fuhr eine starke Maschine und raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Hätte Chen nicht blitzschnell reagiert, dann wäre das brummende Monster geradewegs in sie hineingefahren. An der Hand hatte er sie auf den Gehweg gezerrt und sich schützend vor sie gestellt. Gleichzeitig war sein rechtes Bein nach hinten geschnellt wie in einem Kung-Fu-Film. Der Motorradfahrer hatte Chen um Haaresbreite verfehlt, hatte kurz geschwankt, aber nicht die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. In einer wirbelnden Staubwolke raste er über die Nanjing Lu davon.
Das Ganze hatte nur wenige Sekunden gedauert, dann war das Motorrad im Verkehrsgetümmel verschwunden. Mehrere Passanten starrten sie an und gingen dann weiter.
»Das tut mir sehr leid, Inspektor Rohn«, sagte er und ließ ihre Hand los. »Diese rücksichtslosen Motorradfahrer sind eine echte Bedrohung.«
»Vielen Dank, Oberinspektor Chen«, sagte sie, und sie gingen weiter.
7
A UF DEM W EG ZU Parteisekretär Lis Büro schaute er noch einmal seinen Korb mit Posteingängen durch. Dort lag ein mehrseitiges Fax von der Polizeidienststelle in Fujian; es handelte sich um Hintergrundinformationen über die Fliegenden Äxte. Zu seiner Freude fand er auch eine Handy-Nummer, unter der er Hauptwachtmeister Yu erreichen konnte. Dienststellenleiter Hong hatte bei ihrem Gespräch am vorigen Abend versprochen, seinem Assistenten ein Mobiltelefon zur Verfügung zu stellen. Außerdem entdeckte er das Foto eines heruntergekommenen Hauses, auf dem Yu handschriftlich vermerkt hatte: »Wens Haus im Dorf Changle«.
Qian kam ihm mit breitem Grinsen und einem großen Umschlag in der Hand entgegen. »Ich habe die Informationen über Wen in Umlauf gebracht, Oberinspektor Chen, und mit Doktor Xia wegen der Leiche im Bund-Park gesprochen. Der endgültige Autopsiebericht wird noch eine Weile auf sich warten lassen, aber hier ist eine vorläufige Zusammenfassung.«
»Gut gemacht, Qian«, sagte
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