Die Frau mit dem roten Herzen
Angelegenheit in vier bis fünf Tagen erledigt sein müssen. Nun allerdings war ungewiß, wie lange sie in Shanghai bleiben würde.
War der Bericht von Wens plötzlichem Verschwinden eine Lüge? Denkbar wäre das, denn die Chinesen waren über Wens Nachzug in die Staaten nicht glücklich. Wenn Jia Xinzhi, der Kopf des Schmugglerrings, verurteilt würde, gäbe das internationale Schlagzeilen. Die schmutzigen Details dieses üblen Geschäfts würden das Ansehen der chinesischen Regierung im Ausland nicht gerade verbessern. Man vermutete schon länger, daß örtliche Polizeikräfte am Menschenschmuggel beteiligt waren. Wie konnte es den Schmugglern in einem so rigide überwachten Staat gelingen, Tausende von Menschen illegal außer Landes zu bringen, ohne daß die Behörden etwas merkten? Während des Fluges hatte sie in einem Bericht gelesen, daß Hunderte von illegalen Auswanderern sogar auf Militärlastern aus Fuzhou in den Hafen gebracht worden waren, von wo ihre Schiffe auslaufen sollten. Vielleicht versuchten die chinesischen Behörden jetzt, Wen am Verlassen des Landes zu hindern, um das Gerichtsverfahren platzen zu lassen und damit ihre Komplizenschaft zu vertuschen. Erst die unerklärlichen Verzögerungen, dann das noch unerklärlichere Verschwinden Wens. War das ein letzter Versuch der Chinesen, sich aus dem Handel, auf den sie sich eingelassen hatten, herauszuschwindeln? Wenn dem so wäre, dann wäre auch ihre Mission zum Scheitern verurteilt.
Sie kratzte einen juckenden Moskitostich an ihrem Arm.
Auch dieser Oberinspektor Chen war ihr nicht geheuer, obgleich die Tatsache, daß gerade er ihr als Partner zugeteilt worden war, die Kooperationsbereitschaft der Chinesen demonstrieren sollte. Dafür sprach nicht nur sein Dienstgrad, es war noch etwas anderes; er erschien ihr aufrichtig. Er konnte natürlich auch ausgesucht worden sein, um sie in Sicherheit zu wiegen. Womöglich war er ja gar kein Oberinspektor, sondern ein Geheimagent mit dem Auftrag, sie einzuwickeln.
Sie rief in Washington an. Ed Spencer war nicht in seinem Büro. Sie hinterließ eine Nachricht und gab ihre Nummer im Hotel an.
Nachdem sie aufgelegt hatte, sah sie sich die Akten an, die Chen dagelassen hatte. Über Feng erfuhr sie nicht viel Neues, aber die Informationen über Wen waren aktuell, ausführlich und gut aufbereitet.
Sie brauchte fast eine Stunde, um alles zu lesen. Trotz ihrer Vorkenntnisse stieß sie auf einige Ausdrücke, die sie nicht verstand. Sie unterstrich sie in der Hoffnung, am nächsten Tag in einem Lexikon nachschlagen zu können. Dann versuchte sie, sich einen Bericht für ihren Vorgesetzten zurechtzulegen.
Was gab es für sie hier in China zu tun?
Sie konnte nur abwarten, wie Oberinspektor Chen es vorgeschlagen hatte. Andererseits konnte sie auch ihre Mitarbeit anbieten. Es handelte sich um einen wichtigen Fall. Sie benötigten Fengs Zeugenaussage, und um diese zu bekommen, mußten sie seine Frau zu ihm bringen, vorausgesetzt sie lebte noch. Sie beschloß, daß es das Beste sein würde, sich in die Ermittlungen einzuschalten. Die Chinesen hatten keinen Grund, ihr das zu verweigern, sofern sie nichts zu verbergen hatten. Chen schien sicher zu sein, daß Wen noch lebte. War sie aber getötet worden, so konnte niemand sagen, wie sich das auf Fengs Aussage auswirken würde.
Inspektor Rohn war in ihrer Eigenschaft als China-Expertin beim U.S. Marshals Service noch kaum zum Zuge gekommen, obgleich diese Fachkenntnisse ihr die Stelle dort verschafft hatten. Wenn sie sich hier an den Ermittlungen beteiligte, würde sie beweisen können, daß ihr Abschluß in Sinologie für diese Stelle tatsächlich von Bedeutung war, außerdem hätte sie endlich Gelegenheit, die Realität chinesischen Alltagslebens kennenzulernen.
Also schrieb sie ein Fax an Ed Spencer. Nachdem sie ihn über die unerwarteten Ereignisse in Kenntnis gesetzt hatte, bat sie um Überprüfung der Aufzeichnungen von Fengs Anrufen am fünften April und wies auf die Möglichkeit einer kodierten Botschaft hin. Dann erbat sie sein Einverständnis für ihre Beteiligung an den laufenden Ermittlungen. Und schließlich forderte sie Informationen über Oberinspektor Chen Cao an.
Bevor sie in das Kommunikationszentrum des Hotels hinunterging, fügte sie noch hinzu, Ed möge ihr seine Antwort um zehn Uhr Shanghaier Zeit faxen, damit sie neben der Faxmaschine darauf warten konnte. Obgleich das Fax in Englisch verfaßt sein würde, wollte sie vermeiden, daß jemand
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