Die Frau mit dem roten Herzen
eine undichte Stelle auf unserer Seite gibt.«
»Die Entscheidung, Wen in die Vereinigten Staaten ausreisen zu lassen, wurde auf höchster Regierungsebene getroffen. Weder Parteisekretär Li noch ich selbst hatten bis zum Tag Ihrer Ankunft je von Feng oder Wen gehört«, gab Chen zurück.
»Fengs Anruf zeigt, daß er kein Vertrauen mehr in unser Programm hat. Er hat seine Frau angerufen, ohne uns vorher zu informieren. Ed ist dabei, ihm eine neue Tarnadresse zu verschaffen.«
»Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Inspektor Rohn. Lassen Sie ihn, wo er ist, und verstärken Sie lieber die Bewachung. Vielleicht wird die Geheimgesellschaft noch einmal Kontakt mit ihm aufnehmen.«
»Das könnte gefährlich für ihn werden.«
»Wenn sie vorhatten, ihn umzubringen, dann hätten sie das ohne vorherige Warnung getan. Ich glaube, sie wollten ihn einschüchtern, damit er nicht gegen Jia aussagt. Sie werden ihn nur dann töten, wenn sie keine andere Wahl haben.«
»Da haben Sie vermutlich recht, Oberinspektor Chen. Ich werde mit meinem Chef darüber sprechen.«
Dank Zhous Abkürzung erreichten sie kurz darauf die Shandong Lu, wo Wen Lihua, der Bruder von Wen Liping, mit seiner Familie wohnte. Es war eine schmale Straße mit alten, heruntergekommenen Häusern, die um die Jahrhundertwende erbaut worden sein mochten. Diese Straße im Bezirk Huangpu hatte früher zur Französischen Konzession gehört, doch mittlerweile war sie von vielen neuen Gebäuden umgeben und wirkte wie ein Schandfleck. Am Eingang der Straße wurde die Zufahrt von falschgeparkten Fahrrädern, Autos und den illegal gelagerten Stahl- und Eisenteilen einer kleinen Nachbarschaftsfabrik versperrt. Kleiner Zhou mußte heftig manövrieren, bis er sie vor einem zweistöckigen Haus absetzen konnte. Die Nummer auf der morschen Eingangstür war so verblichen, daß man sie kaum erkennen konnte.
Das Treppenhaus war steil, eng, verdreckt und selbst am Tage dunkel. Die Dielen knarrten unter ihren Schritten und zeugten vom schlechten Zustand mancher Stufen. Am Geländer war die Farbe größtenteils abgeblättert. Catherine nahm in ihren hochhackigen Schuhen vorsichtig eine Stufe nach der anderen und wäre beinahe gestolpert.
»Tut mir leid«, sagte Chen und faßte sie am Ellenbogen.
»Da können Sie doch nichts dafür, Oberinspektor Chen.«
Er sah, wie sie sich die Hände an ihrem Taschentuch abputzte, als sie den ersten Stock glücklich erreicht hatten. Vor ihnen lag ein länglicher Raum, der mit Gerümpel vollgestellt war: kaputte Korbstühle, ausrangierte Kohleöfen, ein Tisch mit fehlendem Bein und ein uraltes Möbel, das als Geschirrschrank gedient haben mochte. In einer Ecke stand ein Eßtisch mit mehreren Stühlen.
»Ist das ein Abstellraum?« fragte sie.
»Nein. Ursprünglich war dies das Wohnzimmer, aber inzwischen dient es als Gemeinschaftsraum für die drei oder vier Familien, die auf diesem Stockwerk wohnen. Jede kann einen Teil des Raums nutzen.«
Von dem Gemeinschaftsraum gingen mehrere Türen ab. Chen klopfte an die erste. Eine alte Frau, die aufgebundenen Füßen angehumpelt kam, öffnete.
»Sie möchten Lihua sprechen? Das ist die letzte Tür.«
Die fragliche Tür wurde von jemandem geöffnet, der sie offenbar kommen gehört hatte; ein Mann Mitte Vierzig, groß, schlaksig, kahlköpfig, aber mit dichten Augenbrauen und einem Schnauzbart. Er trug ein weißes T-Shirt, Khaki-Shorts, Gummilatschen und ein Pflaster auf der Stirn. Es war Wen Lihua.
Sie betraten einen Raum, der nicht mehr als fünfzehn oder sechzehn Quadratmeter maß. Die Möblierung war ärmlich. Das altmodische Bett hatte ein blaugestrichenes Kopfteil aus Metall, geschmückt mit einem laminierten Poster des Großen Vorsitzenden. Er winkte vom Tor des Himmlischen Friedens herab; die ursprüngliche Dekoration war nicht mehr sichtbar. In der Mitte des Zimmers stand ein rotlackierter Tisch. Der Plastikbehälter mit Stiften und der Bambusköcher mit Eßstäbchen, die dort nebeneinander standen, zeugten von vielfältigem Gebrauch. Ferner gab es einige fadenscheinige Sessel. Einzig der silberne Bilderrahmen mit dem Familienfoto schien neu zu sein. Es zeigte einen Mann, eine Frau und ein paar Kinder, die ein kollektives Lächeln vereinte. Das Bild mußte vor mehreren Jahren aufgenommen worden sein, denn Lihua hatte damals noch Haare, die auf verwegene Weise in die Stirn gekämmt waren.
»Können Sie sich denken, warum wir heute hier sind, Genosse Wen Lihua?« Chen hielt ihm seinen
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