Die Frau mit dem roten Herzen
Dienstausweis hin.
»Soweit ich weiß, geht es um meine Schwester. Mein Chef hat mir den Tag freigegeben, damit ich Ihnen behilflich sein kann.« Lihua bot ihnen Platz am Eßtisch an und brachte Teeschalen. »Was hat sie denn ausgefressen?«
»Ihre Schwester hat nichts Unrechtes getan. Sie hat einen Paß beantragt, um ihrem Mann in die Vereinigten Staaten zu folgen«, sagte Catherine Rohn auf chinesisch und zeigt ihm ebenfalls ihren Ausweis.
»Feng ist in Amerika?« Lihua kratzte sich den kahlen Schädel und fügte dann hinzu: »Oh, Sie sprechen Chinesisch.«
»Ja, aber nicht sehr gut«, erwiderte sie. »Oberinspektor Chen wird die Vernehmung führen. Kümmern Sie sich nicht weiter um mich.«
»Inspektor Rohn hilft mir bei den Ermittlungen«, sagte Chen. »Ihre Schwester ist verschwunden. Wir würden gerne wissen, ob sie Kontakt mit Ihnen aufgenommen hat.«
»Verschwunden! Nein, sie hat sich nicht bei mir gemeldet. Ich höre heute zum ersten Mal, daß Feng im Ausland ist und sie ihm folgen will.«
»Auch wenn Sie in letzter Zeit nichts von ihr gehört haben«, sagte Chen, »alles, was Sie uns über Ihre Schwester sagen können, könnte von Nutzen sein.«
Catherine holte einen kleinen Kassettenrekorder hervor.
»Ob Sie’s glauben oder nicht, ich habe seit mehreren Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen«, Lihua seufzte in seine Teeschale. »Dabei ist sie meine einzige Schwester.«
Chen bot ihm eine Zigarette an. »Bitte erzählen Sie.«
»Wo soll ich anfangen?«
»Wo Sie wollen.«
»Also, unsere Eltern hatten nur uns zwei Kinder, mich und meine Schwester. Meine Mutter ist früh gestorben. Vater hat uns aufgezogen – in diesem Zimmer hier. Ich bin ein einfacher Mann. Über mich gibt es nichts zu sagen. Jetzt nicht und damals nicht. Bei ihr war das anders. So hübsch und so begabt. Alle ihre Lehrer in der Grundschule sagten ihr eine strahlende Zukunft im sozialistischen China voraus. Sie sang wie eine Lerche, tanzte wie eine Wolke. Die Leute sagten immer, sie müsse unter einem Pfirsichbaum zur Welt gekommen sein.«
»Unter einem Pfirsichbaum?« fragte Catherine.
»Wir vergleichen hübsche Mädchen mit Pfirsichblüten«, erklärte ihr Chen, »und außerdem gibt es den Aberglauben, daß, wer unter einem Pfirsichbaum geboren wird, zu einer Schönheit heranwächst.«
»Pfirsichbaum hin oder her«, fuhr Lihua mit einem von Zigarettenrauch umwölkten Seufzer fort, »jedenfalls kam sie im falschen Jahr zur Welt. Die Kulturrevolution brach aus, als sie in die sechste Klasse ging. Sie wurde Kader bei den Roten Garden und Leiterin der Sing- und Tanzgruppe unseres Distrikts. Schulen und Betriebe luden sie zu Darbietungen ein. Sie sang Revolutionslieder und tanzte den Loyalitätstanz.«
»Loyalitätstanz?« fragte Catherine erneut. »Entschuldigen Sie, daß ich unterbreche.«
»Während dieser Jahre war Tanzen in China verboten«, sagte Chen. »Außer in einer ganz bestimmten Weise. Man tanzte mit dem ausgeschnittenen Schriftzeichen für Loyalität in der Hand oder mit einem roten Papierherz, auf dem dieses Zeichen stand, und brachte durch alle erdenklichen Gesten seine Treue gegenüber dem Vorsitzenden Mao zum Ausdruck.«
»Dann folgte die Kampagne, bei der Mittel- und Oberschüler aufs Land verschickt wurden«, nahm Lihua seine Erzählung wieder auf. »Wie viele andere folgte sie bereitwillig diesem Ruf ihres Führers. Sie war damals erst sechzehn. Vater machte sich Sorgen. Er bestand darauf, daß sie nicht mit ihren Klassenkameraden ging, sondern nach Changle, einem Dorf in Fujian kam, wo wir einen Verwandten hatten, der sich um sie kümmern sollte. Das hofften wir zumindest. Zunächst schien alles ganz gut zu laufen. Wir bekamen regelmäßig Briefe, in denen sie betonte, daß die harte Arbeit ihrer Umerziehung nutze. Sie pflanzte Reis in den Naßfeldern, schnitt Feuerholz in den Ber gen, pflügte mit Ochsen im Regen … Damals glaubten viele junge Leute an Mao, als wäre er ein Gott.«
»Was geschah dann?«
»Plötzlich blieben ihre Briefe aus. Telefonisch konnten wir sie nicht erreichen. Wir schrieben dem Verwandten, und er antwortete ausweichend, daß alles in Ordnung sei. Nach mehreren Monaten erhielten wir einen kurzen Brief von ihr, in dem sie uns mitteilte, daß sie mit Feng Dexiang verheiratet sei und ein Kind erwarte. Daraufhin ist Vater hingefahren. Es war eine lange, beschwerliche Reise. Als er zurückkam, war er ein gebrochener Mann, weißhaarig und verzweifelt. Mir hat er nicht viel erzählt.
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