Die Frau mit dem roten Herzen
uns nicht früher treffen?«
»Wann haben Sie Zeit?«
»Wie wäre es zwischen halb zwölf und zwölf?« fragte Pan. »Ich komme in Ihr Hotel, sobald ich hier fertig bin.«
»Ja, das geht.«
Yu überlegte, ob er Wachtmeister Zhao über die Terminänderung informieren sollte, entschied sich dann aber dagegen. In den vergangenen Tagen war der Kollege wenig hilfreich gewesen. Manchmal hatte Yu sogar das Gefühl gehabt, daß Zhao der Grund dafür war, daß seine Gesprächspartner so zugeknöpft reagierten. Also rief er ihn an und sagte, Pan habe abgesagt und er selbst würde den Tag im Hotel verbringen, Briefe und Berichte schreiben und seine Wäsche waschen. Zhao stimmte dem sofort zu. Gerüchteweise hatte Yu erfahren, daß Zhao ein einträgliches Nebengeschäft betrieb; vielleicht war er froh, sich diesem während der Dienstzeit widmen zu können.
Yu hielt es für extravagant, sich die Wäsche im Hotel waschen zu lassen, wo er das doch genausogut selbst tun und dabei zwei Yuan sparen konnte. Er knetete seine verschmutzte Kleidung auf einem hölzernen Waschbrett im Betonbecken des Waschraums und dachte darüber nach, daß ihm die Jahre zwischen den Fingern zerrannen wie Seifenlauge.
Schon in der Kindheit hatte er von einer Polizeikarriere geträumt, während ihm sein Vater vom Kampf gegen das Verbrechen erzählte. Doch kaum hatte er selbst einige Jahre im Präsidium gearbeitet, da waren seine Illusionen dahin.
Sein Vater, der Alte Jäger, war viele Jahre lang ein hervorragender Polizeibeamter und ein loyales Parteimitglied gewesen, aber dennoch als einfacher Wachtmeister in den Ruhestand gegangen. Seine dürftige Rente erlaubte ihm nicht einmal den Luxus einer gelegentlichen Kanne Drachenbrunnentee. Hauptwachtmeister Yu mußte den Tatsachen ins Auge sehen. Mit seiner mangelhaften Ausbildung und den fehlenden Beziehungen konnte er nicht von einem Aufstieg im Polizeidienst träumen. Er würde einer der unbedeutenden Beamten am unteren Ende der Leiter bleiben, schlecht bezahlt, ohne Einfluß und ewig der letzte auf der Liste der Dienstwohnungsanträge.
Das war auch einer der Gründe, warum er nicht scharf gewesen war auf diesen Job hier. Ende des Monats würde das Wohnungskomitee wieder tagen. Yu war auf der Warteliste. Wäre er in Shanghai, dann könnte er die Entscheidung womöglich zu seinen Gunsten beeinflussen. Vielleicht, wie er es kürzlich in einem Film gesehen hatte, indem er aus Protest auf seinem Büroschreibtisch übernachtete. Er fühlte sich zu solchen Maßnahmen berechtigt. Seit mehr als zehn Jahren war er verheiratet und wohnte noch immer in der Wohnung seines Vaters. Es war eine Schande für einen Mann von nahezu vierzig Jahren, daß er seiner Familie kein eigenes Heim bieten konnte. Sogar Peiqin beklagte sich gelegentlich darüber.
Die Wohnungsknappheit in Shanghai hatte eine lange Tradition. Für die Arbeitseinheiten – die Fabriken, Betriebe, Schulen und Institutionen, in denen die Leute arbeiteten – wurde es immer schwieriger, ihre Angestellten unterzubringen. Sie erhielten von der städtischen Behörde jährliche Zuteilungen, die sie dann nach Dienstalter und anderen Faktoren vergaben. Besonders schwierig gestaltete sich das beim Shanghaier Polizeipräsidium, wo so viele Beamte ihr Leben lang gearbeitet hatten.
Dennoch nahm Hauptwachtmeister Yu seine Arbeit ernst; er glaubte daran, daß sie der Gesellschaft nützen konnte. Allerdings hatte er seine eigenen Vorstellungen davon, wie man im heutigen China ein guter Polizist war. Man mußte sehr genau einschätzen können, was machbar war und was nicht. Es gab nämlich jede Menge Fälle, die den Einsatz überhaupt nicht lohnten, da ihr Ausgang ohnehin von der Partei bestimmt wurde. Dies galt zum Beispiel für Korruptionsvorwürfe gegen Staatsbeamte. Trotz des ganzen Medienrummels würde man damit allenfalls einen Moskito treffen, keinesfalls den Tiger selbst. Solche Fälle waren höchstens von symbolischem Wert, reine Propagandamaßnahmen. Auch die vorliegenden Ermittlungen, obgleich nicht unbedingt politischer Natur, waren reine Formsache. Dasselbe galt vermutlich für den Mord im Bund-Park. Ein effektives Vorgehen müßte sich gegen die Triaden selbst richten, aber dazu waren die Behörden nicht bereit.
Dennoch hatte Wens Fall sein Interesse geweckt. Nie hätte er sich vorstellen können, daß eine ehemalige gebildete Jugendliche ein so erbärmliches Leben führte. Was Wen zugestoßen war, dachte er voll Grauen, hätte ebensogut Peiqin
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