Die Frau mit dem roten Herzen
Restaurantbesitzer am Telefon.
Vielleicht hatten sie einen Fehler bei der Ausliefe rung gemacht, den sie jetzt zu vertuschen suchten. Doch das war unwahrscheinlich; der Mann, der das Gericht gebracht hatte, hätte doch Geld dafür ver langt.
Hauptwachtmeister Yu war sich sicher, daß er das Ziel dieses Anschlags gewesen war. Wäre er allein im Hotel gewesen, dann hätte er alle Gerichte gegessen und wäre im Krankenhaus, wenn nicht gar in der Leichenhalle gelandet. Niemand hätte sich die Mühe gemacht, die Essensreste in der Terrine zu untersuchen. Die Bande konnte sich in Sicherheit wiegen, denn Lebensmittelvergiftungen waren hier an der Tagesordnung. Vermutlich wäre nicht einmal die Polizei verständigt worden. Die Gangster hatten allerdings nicht wissen können, daß er keine rohen Meeresfrüchte aß.
Offenbar war er jemandem in die Quere gekommen. Man wollte ihn aus dem Weg schaffen. Das war eine Kampfansage, und Hauptwachtmeister Yu war bereit zu kämpfen, auch wenn sein Feind die bessere Ausgangsposition hatte. Er lauerte im dunklen und nutzte jede Gelegenheit, so wie dieses Mittagessen …
Doch plötzlich entdeckte Yu ein beunruhigendes Loch in seiner Theorie. Die Gangster hätten doch, als sie Pan in sein Zimmer gehen sahen, ihren Plan fallenlassen müssen. Waren sie womöglich falsch informiert und dachten, daß Yu sich allein in seinem Zimmer aufhielt?
Niemand außer Wachtmeister Zhao wußte von seiner Tagesplanung. Er hatte Zhao gesagt, daß er allein sein würde. Und das Essen war für eine Person zubereitet worden; es lag nur ein Paar Stäbchen auf dem Tablett.
10
N ACHDEM SIE SICH von Zhu Xiaoying verabschiedet hatten, tastete sich Inspektor Rohn hinter Oberinspektor Chen die Stiege hinunter.
Lihuas Liste folgend, hatten sie bereits einige von Wens Klassenkameraden befragt: Qiao Xiaodong in der Jingling-Oberschule, Yang Hui am Gemüsemarkt Rote Fahne und schließlich Zhu Xiaoying bei sich zu Hause, aber niemand hatte etwas gewußt. Das Klassentreffen hatte sie zwar rührselig gestimmt, doch sie waren viel zu sehr mit ihrem Alltag beschäftigt, um sich Gedanken über eine Klassenkameradin zu machen, die sie längst aus den Augen verloren hatten. Zhu war die einzige, die Wen noch Neujahrskarten schickte, doch auch sie hatte schon seit Jahren keine Antwort mehr erhalten. Allenfalls die Umstände, wegen denen Wen nach der Kulturrevolution nicht nach Shanghai zurückgekehrt war, hatte Zhu ihnen erhellen können. Sie glaubte, daß Wens Bruder Lihua der Grund dafür war, da er befürchtete, sie mit in das einzige Zimmer aufnehmen zu müssen, das er mit seiner Familie bewohnte.
Catherine ging Schritt für Schritt die baufällige Treppe hinunter, als plötzlich eine der Holzstufen unter ihr nachgab. Sie strauchelte, verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorne. Bevor sie sich fangen konnte, prallte sie gegen Oberinspektor Chen. Dieser hielt sich am Geländer fest, fing sie mit seinem Körper ab und drehte sich um, so daß er sie plötzlich in den Armen hielt.
»Ist was passiert?« fragte er.
»Alles in Ordnung«, erwiderte sie und löste sich von ihm. »Vielleicht leide ich noch unter Jet-Lag.«
Zhu kam mit einer Taschenlampe herbeigeeilt. »Ach, diese alte Treppe müßte dringend repariert werden.«
Eine der Stufen war durchgebrochen. Ob Inspektor Rohn gestrauchelt war oder ob das Holz nachgegeben hatte, war unklar.
Chen wollte etwas sagen, beherrschte sich aber und murmelte statt dessen: »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Inspektor Rohn.«
»Aber wieso denn, Oberinspektor Chen?« sagte sie, als sie sah, wie unangenehm ihm die Sache war. »Sie haben mich einmal mehr vor Schlimmerem bewahrt.«
Sie machte einen Schritt vorwärts und wankte, woraufhin er den Arm um ihre Taille legte. Sie lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen ihn, und er half ihr die restlichen Stufen hinunter. Als sie am Fuß der Treppe ihren Fuß heben und ihren Knöchel inspizieren wollte, stieß sie einen leisen Schmerzensschrei aus.
»Sie brauchen einen Arzt.«
»Nein, das ist nicht weiter schlimm.«
»Ich hätte Sie nicht hierher mitnehmen sollen, Inspektor Rohn.«
»Ich war es ja, die darauf bestanden hat«, entgegnete sie leicht gereizt.
»Ich habe eine Idee«, sagte Chen mit entschlossener Miene. »Wir gehen zu einem Kräuterarzt, zu Herrn Ma. Seine chinesische Arznei wird Ihnen helfen.«
Herrn Mas Kräuterapotheke lag in der Altstadt von Shanghai. Auf dem goldenen Schild über der Tür
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