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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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damals gewohnt haben. Ich weiß noch, dass wir auf unseren Spaziergängen an dem Haus vorbeigekommen sind, in dem ich jetzt lebe. Es liegt ganz oben im Konglevei, aber wahrscheinlich hast du die Straßennamen in der Gegend längst vergessen. Bestimmt hast du seit über dreißig Jahren keinen Fuß mehr hierher gesetzt.
    Ich sitze auf einer Glasveranda und schaue in einen nach Süden liegenden Garten. Es ist fast so, wie draußen zu sitzen, denn ich habe zwei große Fenster geöffnet. Ab und zu kommt eine Hummel hereingeflogen, aber sie bleiben immer nur kurz, dann fliegen sie wieder hinaus. Berit wollte die Veranda mit Blumen vollstellen, aber ich habe mich mit meiner Ansicht durchsetzen können, dass wir im Garten genug davon haben, jedenfalls im Sommer. Dafür grünt und blüht es auf der Veranda das Winterhalbjahr hindurch, und das Gute ist, dass dann keine Hummeln und Wespen durch die offenen Fenster fliegen. Du siehst, ich spreche von einem typischen ehelichen Kompromiss. Dass man sich in solchen Dingen irgendwo in der Mitte einigt, ist das Mindeste.
    Berit hat nach den Ferien gerade wieder mit der Arbeit angefangen. Ich glaube, ich habe nicht erzählt, dass sie Augenärztin ist und am Ullevål Krankenhaus arbeitet. Ine und Norun sind wie üblich irgendwo unterwegs, sie sind so wild wie der Sommer selbst, und ich bin allein im Haus.
     
    Ich kann mich noch gut an den Konglevei erinnern. Und an damals, als wir dort spazieren gegangen sind. Wir sind zur U-Bahnstation Berg gegangen und einige Male bis ganz hinunter nach Blindern. Das haben wir oft so gemacht, Steinn. Außerdem mache ich jedes Mal, wenn ich in Oslo bin, einen kurzen Abstecher nach Kringsjå. Vergiss nicht, dass ich fünf Jahre dort oben gewohnt habe, und es waren fünf wichtige Jahre. Ich war dort zu Hause, und noch heute drehe ich ab und zu eine Runde um das Sognsvann. Oder findest du, ich sollte die Gegend als »restricted area« ansehen?
     
    Absolut nicht. Es tut gut zu hören, dass du seit damals öfter hier warst.
     
    Aber du bist mir nie begegnet. Am Sognsvann, meine ich.
     
    Nein, da siehst du’s.
     
    Was sehe ich?
     
    Den Zufall. Dass wir uns nicht immer auf ihn verlassen können.
     
    Vielleicht sollte das große Wiedersehen erst auf der alten Veranda am Fjord stattfinden …
     
    Du bist witzig. Aber wenn du um den See herumgehst, gehst du dann im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn?
     
    Immer gegen den Uhrzeigersinn, Steinn. So wie damals mit dir.
     
    Dann halten wir also beide an unseren Gewohnheiten fest. Das bedeutet, dass ich gelegentlich nur fünfzig oder hundert Meter hinter dir gegangen sein kann. Aber ich habe gerade mit dem Joggen angefangen, da werde ich dich beim nächsten Mal wahrscheinlich einholen.
     
    Im Moment finde ich es wichtiger, mir ein Bild davon zu machen, wie du auf einer Glasveranda in Nordberg vor einem Computer sitzt. Ich habe die Hummel registriert, die sich kurz zu dir verirrt hatte, und ich danke dir dafür. Aber ich brauche noch ein paar Informationen mehr, um ganz zu vergessen, dass wir uns in Wirklichkeit zwei Überfahrten mit dem Fährschiff und sechshundert Kilometer Landstraße voneinander entfernt aufhalten. Kannst du mir helfen?
     
    Also: Ich trage ein weißes T-Shirt, eine kurze Khakihose und bin barfuß. Auf einem winzigen Tisch vor mir, eigentlich einem Tischaufsatz, habe ich gerade Platz für einen Laptop im A 4-Format, aber auf der Fensterbank stehen ein doppelter Espresso und ein Glas Mineralwasser in Reichweite. Ich sitze auf einem Barhocker, von dem ich nicht mehr weiß, wie er ins Haus gekommen ist. Draußen sind es schon fast fünfundzwanzig Grad, und im Garten, der von einer Tujahecke umgeben ist, sehe ich einen Baum mit grünen Graubirnen und zwei Pflaumenbäume mit fast reifen blauvioletten Pflaumen – ich überlege gerade, ob die Sorte wirklich Herman heißt. Um eine alte Sonnenuhr wächst ein Wald aus gelbem Pfennigkraut, das fast den ganzen Sommer blüht, und links und rechts vom Kiesweg prangen Dolden von weißen und roten Prachtspieren. Die kommen spät, aber sie stehen wie leuchtende kleine Säulen bis weit in den Herbst hinein Spalier …
    Reicht das, um zwei Überfahrten und sechshundert Kilometer Straße zu kompensieren?
     
    Das reicht absolut, jetzt sehe ich dich vor mir. Aber kurze Hosen! So was hast du damals nie angezogen. In der Regel hast du Cordhosen getragen, manchmal braune, manchmalbeige, ein paarmal auch knallrote. Etwas hat sich also doch

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