Die Frau mit dem roten Tuch
der Menschheit sicher weiß.
Du glaubst doch nicht, dass die niedliche Studentin in dein Büro gekommen ist, um dich danach zu fragen? Dass sie die Absicht hatte, dich als lebendes Konversationslexikon zu benutzen?
Was mich betrifft, so habe ich gar nicht die Absicht, deinen astronomischen, paläontologischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Darlegungen zu widersprechen. Meinen Segen hast du. Aber du redest wie ein Wasserfall über das Materielle. Das heißt, du antwortest nicht auf meine Frage. Du hast keine Theorie darüber, wie oder warum das alles geschehen ist. Du spiegelst die Welt nur genauso wieder, wie sie sich uns allen darstellt.
Mit keinem Wort erwähnst du das Allerrätselhafteste von allem, nämlich dass wir auch und außerdem glitzernde Geister sind. Jeder und jede von uns ist eine der Seelen des Universums. War es nicht das, was wir damals in den »Puppen« gesehen haben?
Versuch dir ein Kind vorzustellen, das zu seiner Mutter kommt und fragt: Wer bin ich? Oder: Was ist ein Mensch? Und stell dir vor, die Mutter nimmt ein Messer und schneidet an dem Kind herum, um die Frage besser beantworten zu können.
Einen Abschnitt habe ich trotzdem mehrmals gelesen. Du schreibst: »Dieses ungeheuer rätselhafte Universum ist nach den letzten Berechnungen circa 13,7 Milliarden Jahre alt. Damals ist etwas geschehen, das wir als den Big Bang oder als den Urknall bezeichnen. Wie? Warum? Frag mich nicht. Und frag auch sonst niemanden, denn niemand weiß es …«
An diesem schillernden Rand des Wissens haben wir damals Position bezogen. Wir haben uns einem ekstatischen Agnostizismus dem »ungeheuer Rätselhaften« gegenüber hingegeben. Vielleicht haben wir daraus auch erst die Energie gezogen, die man braucht, um siebzehn Tage als Höhlenmensch zu leben. Uns war schwindlig vom Staunen, und wir mussten alles erforschen. Wie es sich als Steinzeitmensch lebte, brauchte man nur auszuprobieren, fanden wir.
Wie auch immer, mir scheint, wir müssten noch heute nicht so weit auseinander liegen. Der Unterschied ist vielleicht nur, dass ich das, was du Big Bang nennst, den Schöpferaugenblick nenne. Wie steht im ersten Buch Mose, Vers drei geschrieben: Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.
Was du als »Energieentladung« abtust, ist für mich ein Schöpfungsakt. Unverständlich ist mir nur, wie man an Gottes Schöpferhand auf 0,000 000 000 001 Sekunden herankommen kann, ohne die göttliche Nähe auch nur ansatzweise zu verspüren. Man kann dann meiner Ansicht nach nicht sonderlich sensibel sein.
Aber du bekommst noch eine Chance. Was glaubst du? Ich meine, was denkst du über Dinge, die wir nicht wissen?
Löschst du?
Wie bitte?
Denkst du daran, die Mails zu löschen, ehe du sie beantwortest?
Schon, ja …
Ich hatte nur den Eindruck, dass du dich überraschend gut an meine Ausdrucksweise erinnerst. Wie in dem Abschnitt, den du vorhin zitiert hast. Du hast ihn sogar in Anführungszeichen gesetzt – wenn ich mich nicht täusche, hast du mich wörtlich zitiert.
Du bist süß. Ich hatte schon immer ein hervorragendes Gedächtnis. Und noch ein paar solche »Fähigkeiten« mehr …
Na schön …
Jetzt haben Jonas und Niels Petter den Grill angeworfen. Ich muss den Salat machen. Übrigens sehe ich in diesem Augenblick, dass der Junge seinem Vater knapp über den Kopf gewachsen ist. Überhaupt: Ich gehe davon aus, dass ich leider für den Rest des Abends gebunden bin. Aber morgen?
Ich werde Zeit genug haben. Ich wünsche dir einen schönen Abend mit der Familie.
Ich hoffe, du hast es nett bei deinem spirituellen Schwiegervater.
3
Guten Morgen. Ist da jemand?
Du warst eine halbe Stunde zu früh, aber jetzt bin ich da.
Hier draußen ist es wunderschön, absolut windstill und schon angenehm warm. Ich habe mich mit dem Laptop in die Sonne gesetzt, an den Tisch in den kleinen Garten, wo meine Großmutter inmitten ihrer Blumen immer diesen kleinen Vers gesungen hat: Ja, der Steinn, ja.
So ist es, wenn man aus Westnorwegen kommt: Wir wollen auf keinen warmen Sommertag verzichten. Der Sonne und der Natur zu Ehren habe ich ein gelbes Sommerkleid mit großen aufgenähten Kirschen angezogen, und neben dem Laptop steht eine kleine Schüssel Kirschen, die ich unten am Anleger in Eides Laden gekauft habe.
Und wie ist es bei dir?
Ich glaube, ich habe schon erzählt, dass wir in Nordberg wohnen, nicht weit von der Straße, in der wir beide
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