Die Frau mit dem roten Tuch
»Glaubenswahrheiten« sprechen. Problematisch wird es für mich dann, wenn wir unseren eigenen oder fremden Hervorbringungen der Einbildungskraft den Status objektiver, unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existierender Wesen einräumen. Ich denke dabei an alles von Naturgeistern und der Unzahl mystischer Gestalten der alten Stammesreligionen bis hin zu intellektuell anspruchsvolleren Vorstellungen, die uns in den großen Weltreligionen begegnen – zum Beispiel die Vorstellung eines allmächtigen Gottes, der sich den Menschen auf Erden, also hier auf unserem Planeten in der Milchstraße, offenbart hat.
Ich füge vorsichtshalber hinzu, dass es in allen Religionen eine Handvoll ethische Ideale und eine Schatztruhe menschlicher Erfahrungen gibt, die einen großen Wert in sich darstellen. Es ist, wie gesagt, nicht das Glaubensleben der Menschen, das ich kritisieren will. Die Grenze verläuft für mich dort, wo mir in Wort oder Schrift Personen begegnen, die sich darauf berufen, dass der allmächtige Gott zu ihnen gesprochen und ihnen eine spezifische Botschaft offenbart habe, der sich auch alle anderen zu beugen hätten. Es gibt Millionen von Menschen auf diesem Planeten, die glauben, Gott spreche zu ihnen und erteile ihnen seine Anweisungen persönlich. Millionen und Abermillionen von Menschen sind außerdem überzeugt davon, dass ein allmächtiger Gott für alles zuständig ist, was auf Erden geschieht, ganz gleich ob es sich um einen Tsunami, einen Atomkrieg oder einen Mückenstich handelt.
Oder darum, dass der Akku in meinem Laptop hier draußen am Meer bald seinen Geist aufgeben wird. Ich werde versuchen, wenigstens für dieses Problem eine Lösung zu finden. Aber schreib bitte weiter! Für den Augenblick reicht der Saft im Akku ohnehin nicht mehr für eine längere Diskussion, und bei dem Wetter setze ich mich nicht ins Haus.
Ich soll also einfach weitermachen?
Ja, Steinn. Und nach dir bin ich an der Reihe. Ich hoffe, darauf bist du seelisch vorbereitet. Vielleicht ist es meine Bestimmung, ein wenig in dem herumzustochern, was wir damals erlebt haben. Ich weiß nicht, an wie viel du dich noch erinnerst. Aber jetzt mach weiter.
Ich kann nicht behaupten, dass ich mich auf dein Stochern in der Vergangenheit freue, aber solange wir alles löschen, was wir schreiben, soll es nach deinen Bedingungen weitergehen.
Bisher war nur von dem die Rede, was wir die religiöse Lösung nennen könnten. Aber die menschliche Natur ändert sich nicht, und du weißt, dass ich noch nie an die »paranormalen« oder »übersinnlichen« Phänomene geglaubt habe, die die Parapsychologie im Angebot hat. Ich denke da nicht nur an die viktorianischen Salons mit ihren spiritistischen Séancen und allen möglichen Arten der Geisterbeschwörung. Diese Dinge sind ja ein wenig aus der Mode gekommen. Nein, ich denke noch mehr an zeitgenössische Vorstellungen von Telepathie, Hellseherei, Psychokinese und Wiedergängern. Auch uralte Vorstellungen von Engeln und »Helfern« erleben seit einigen Jahren eine Renaissance. Und auch sie fußen auf einer Form von Offenbarungsglauben, verbunden mit der Vorstellung, dass es möglich sei, Kontakt zu transzendentalen oder übersinnlichen Mächten aufzunehmen. Vor einiger Zeit hat man herausgefunden, dass immerhin achtunddreißig Prozent der norwegischen Bevölkerung eine Kommunikation zwischen Menschen und Engeln für möglich halten. Es war ein ziemlicher Aufreger, wenn ich mich recht erinnere.
Auf meiner Liste der Pseudophänomene stehen genauso alle Formen von Weissagung, denn auch die bauen auf der Annahme eines vorbestimmten Schicksals auf, das mithilfe gewisser Techniken nur noch offenbart oder entschlüsselt zu werden braucht. Eine ganze Industrie der Wahrsagerei lebt gut davon und kann sich, was ihre Umsätze betrifft, mit der Sexindustrie messen. Seltsam eigentlich, dass Pornografie und Okkultismus vergleichbar gut verkäuflich sind, obwohl es sich beim einen um etwas radikal Natürliches und beim anderen um etwas »Übernatürliches« handelt.
Meines Erachtens kartiert die sogenannte Parapsychologie eine Landschaft, die es nicht gibt. Das bedeutet nicht, dass alle parapsychologische Literatur wertlos wäre. Als Beschreibung dessen, was sich in der Tiefe des Bewusstseins ganzer Völker oder Bevölkerungsgruppen für Vorstellungen finden, ist diese Literatur so interessant wie Religionsgeschichte, Volkskunde oder andere Kulturwissenschaften. Wir halten die Volksmärchen
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