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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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auf den Gletscher? Du hast ihnen erklärt, ich sei nicht ganz in Form, und ich habe pflichtschuldig genickt, als du mir eine Migräne angedichtet hast. Nach dem, was wir bereits getan hatten, nach der Fahrerflucht, bei der wir womöglich einen schwerverletzten Menschen zurückgelassen hatten, fiel uns das Lügen leicht. Wir wollten noch abwarten, sagten wir, und ließen durchblicken, dass ich außerdem meine Tage hätte. Aber das hatte ich nicht. Du wunderst dich vielleicht, dass ich dich daran erinnere. Aber ich hatte nicht meine Tage, und ich litt niemals an Migräne. Wir gehörten so fest zusammen, dass ich es gemein von dir fand, mir allein den schwarzen Peter zuzuschieben.
    Eines Tages fragte die nette Hotelbesitzerin halb ernst und halb im Scherz, ob wir vor etwas weggelaufen seien oder uns verstecken müssten. Weißt du noch, was wir darauf geantwortet haben? Wir waren ganz schön aufgekratzt. Wir seien vor allen sogenannten Pflichten weggelaufen und verstecktenuns vor allem, was man Ansprüche und Forderungen nenne, sagten wir. Sie schaute uns so misstrauisch an, dass uns ein bisschen unbehaglich wurde. Du hast dann in scharfem Ton gesagt: Ich dachte, das hier wäre ein Ferienort?
     
    Die kleine Szene spielte sich auf dem Weg zum Frühstück ab, und während des Frühstücks kamen wir überein, dass die Zeit zum Aufbruch gekommen sei. Es lag nicht nur an den unangenehmen Fragen. Vor allem wollten wir noch einmal zum Tatort zurück. Es heißt ja, dass Verbrecher immer an den Tatort zurückkehren, und wir hatten auch noch einen guten Grund. Wir mussten nachschauen, ob es dort oben Spuren gab, die wir übersehen hatten. Vor allem aber mussten wir wissen, ob das rote Tuch noch dort lag.
    Und da gab es noch etwas anderes. Ich war an diesem Morgen vor dir aufgewacht, und als du aufgestanden bist, lag ich schon auf der alten Chaiselongue, die auch in dem Zimmer stand, und war in das Buch vertieft, das ich im Billardzimmer gefunden und aus dem wir einander am Vorabend vorgelesen hatten, das Buch der Geister also , das du als »spiritistisches Offenbarungsbuch« bezeichnet hattest. Du warst irritiert, nein, beinahe sauer, und mir kam der Verdacht, dass du an dem Morgen auch aufbrechen wolltest, um mich an meiner neuen Lektüre zu hindern, denn bei der Abreise hätten wir das Buch natürlich wieder ins Regal zurückstellen müssen. Nun packte ich es heimlich in den Rucksack und zog es erst heraus, als wir wieder in Oslo waren.
    Aber noch befinden wir uns im Hotel. Wir waren auf dem Weg zur Veranda mit dem Blick auf den Fjord und die Blutbuche, im Kaminzimmer genauer gesagt, und es war kurz bevor wir zum Packen aufs Zimmer gehen wollten, als uns die Tochter der Hotelbesitzerin, die Frau also, die heute das Hotel betreibt, fragte, ob wir eine halbe Stunde Zeit hätten,um auf ihre drei kleinen Mädchen aufzupassen, während sie zur Bank ging. Seltsamerweise gab es damals in dem kleinen Dorf am Fjord eine Bankfiliale. Wir sagten spontan zu, denn die Mädchen waren niedlich, und wir hatten uns schon mit ihnen angefreundet. Die Jüngste war erst zwei Jahre alt, und während der vergangenen zwei Monate hatte ich ernsthaft davon gesprochen, ob ich nicht die Pille absetzen sollte. Wir freuten uns über das Vertrauen, das uns die junge Frau entgegenbrachte, denn wer hätte Bonnie & Clyde als Babysitter engagiert? Ich weiß nicht mehr, warum, aber am Ende passten wir fast den ganzen Vormittag auf die Mädchen auf. Das sei doch das Mindeste, was wir tun könnten, sagten wir, schließlich hätten sie uns Fahrräder und das Radio geliehen. Wirklich nötig wäre diese Erklärung übrigens nicht gewesen, denn wir hatten dort ein ziemliches Vermögen ausgegeben. Wir waren gute Gäste gewesen und hatten weder am Wein noch am Essen noch am Schnaps zum Kaffee gespart. Sie hatten Calvados, Steinn! Da liegst du völlig richtig mit deiner Erinnerung. Damals war das noch eine Seltenheit, jedenfalls in kleinen Hotels außerhalb der großen Städte. Aber nach unserer Reise durch die Normandie liebten wir Calvados. Ich weiß nicht mehr, ob es Mitte der siebziger Jahre im staatlichen Alkoholladen Calvados gab, und normalerweise hätten wir uns den auch gar nicht leisten können, aber dort, in einer der tiefen Schrunden, die mehrere Eiszeiten hinterlassen hatten, saßen wir jeden Abend nach dem Essen beim Calvados.
    So kam es, dass wir noch eine Nacht im Hotel blieben, und als wir gegen Mittag nicht mehr für die Mädchen verantwortlich waren,

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