Die Frau mit dem roten Tuch
gelassen, nachdem wir sie, benebelt von einem Glücksrausch, angefahren hatten. Wir waren weitergefahren, ohne uns um sie zu kümmern. Dabei hatten wir ihr Tuch gefunden. Wir hatten ihr Tuch gefunden. Also musste der Fahrer des weißen Lieferwagens sie gefunden haben. Aber hatte er die Polizei dann ebenfalls nicht verständigt?
Was ging hier vor sich? Warum wurde im Radio nichts gemeldet? Warum wurde der Vorfall totgeschwiegen? Das musste seine Gründe haben. Welche Erklärung konnte es dafür geben? Warum hielten die Behörden die Nachricht zurück? Was hatte die geheimnisvolle Frau mit dem grauen Gewand und dem hellroten Tuch mitten in der Nacht im Gebirge verloren? Warum hatte sie sich dort aufgehalten? Konnte es um irgendwelche militärischen Geheimnisse gehen? Um Spionage? Konnten wir zufällig in eine große Sache geraten sein, die mit der Sicherheit des Landes zu tun hatte?
Ich hatte die fantastischsten Ideen. Konnten wir ganz sicher sein, dass die Frau, die wir angefahren hatten, ein normalerMensch war, fragte ich. Im Radio wurde nichts gesagt. Die Polizei bat keine Zeugen, sich zu melden. – Was, wenn sie eine Außerirdische, eine Besucherin aus dem Weltraum gewesen war? Dort oben war in der Nacht ein ganz besonderes Licht gewesen, und ich versuchte hartnäckig, dir einen Kommentar dazu zu entlocken. Ich behauptete plötzlich, wir hätten am Himmel ein gleißendes Licht gesehen.
Wir begriffen nichts. Wer war die Verunglückte? Wenn sie keine »Außerirdische« und auch kein Spuk gewesen war, dann musste am anderen Ende des Rätsels jemand nach dem Täter fragen. Dass es ein Mann sein musste, stand fest, wir versuchten sogar sein Profil herauszuarbeiten – keine Frau hätte sich derart verantwortungslos verhalten. Aus irgendeinem Grund wollten die Polizei oder gar der Geheimdienst erst den Täter finden, bevor sie der Öffentlichkeit mitteilten, was passiert war. Unser Auto stand noch immer in Hella. Sollten wir uns einfach melden? Wir könnten auch anonym anrufen und sagen, am Fähranleger in Hella stehe ein beschädigter VW, dann hätte unser Leid ein Ende. Der Wagen war ja ohnehin schon als verdächtig registriert worden.
Es war ein Chaos aus Fragen und versuchsweisen Antworten, aber am Ende wuchs daraus eine neue Sicht der Dinge. Sie war kalt und berechnend. Ich sagte es als Erste. Ich sagte: Lieber Steinn, wir leben seit fünf Jahren zusammen, und plötzlich haben wir großes Pech gehabt. Wir haben eine große Dummheit begangen, denn es war nicht klug, nach dem Unfall einfach weiterzufahren. Aber was immer aus der armen Frau geworden ist, die wir angefahren haben, jetzt können wir ihr nicht mehr helfen. Sollen wir da nicht versuchen, es uns die letzten Tage so schön zu machen wie irgend möglich?
Sirius, habe ich gefleht, Andromeda, Steinn! Und du hast diese Anspielung verstanden, ich meine, die Anspielung auf das, worüber wir in Revsnes gesprochen hatten.
Ich habe gebettelt, und du hast dich nicht lange bitten lassen. So begannen für uns ein paar letzte wunderbare Tage. Wir gingen unter die Dusche und saßen eine halbe Stunde später mit einem Aperitif im gemütlichen Kaminzimmer. Sie hatten keinen Golden Power, aber Smirnoff und Limonensirup.
Nach dem Essen saßen wir mit dem Kaffee abermals vor dem Kamin, doch von da an und für den ganzen Rest der Woche entfernten wir uns nicht mehr länger als unbedingt nötig vom Radio – wir mussten aufs Zimmer, um die Zweiundzwanzig-Uhr-Nachrichten zu hören. Sie brachten immer noch nichts.
Ich brauche die Woche, die wir dort zusammen verbrachten, nicht in allen Einzelheiten zu schildern, du sagst ja, dass du dich daran erinnerst. Wir machten jeden Tag lange Wanderungen. Gleich am ersten Tag stiegen wir durch Supphelledalen zum Gletscher hinauf. Kannst du dich erinnern, Steinn? Weißt du noch, was wir unten am Fluss im Moos gefunden haben? Es war gleich, nachdem wir Schokoladenkuchen gegessen und uns in der gemütlichen Hütte von Hjørdis handgestrickte Handschuhe gekauft hatten. Am nächsten Tag liehen wir uns Fahrräder und fuhren hoch nach Horpedalen und Bøyadalen. In Bøyadalen saßen wir stundenlang auf der Moräne aus dem 18. Jahrhundert und sahen dem Gletscher beim Kalben zu.
Auf allen Touren hatten wir das kleine Kofferradio aus dem Hotel dabei. Einmal kamen wir an der Rezeption vorbei, und eine Frau, Laila hieß sie, zeigte darauf und fragte: Baader-Meinhof? Es war wohl ironisch gemeint.
Wir stellten uns taub. Aber es blieb auch
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