Die Frau mit dem roten Tuch
alles stumm. Niemand schien sich dafür zu interessieren, was Bonnie & Clyde auf ihrer wilden Jagd durchs Land verbrochen hatten. Undwir waren dankbar dafür, denn es schenkte uns Tag um Tag. Eine längere Perspektive hatten wir nicht. Wir freuten uns über jede Stunde, die man uns gönnte.
Wir diskutierten und spekulierten. War es womöglich eine abgekartete Sache gewesen, dass die Frau bei einem Autounfall ums Leben kommen sollte? Dann hatte man uns perfide missbraucht, und wir waren nicht ganz so schuldig. Vielleicht war sie sogar auf die Straße und vors Auto gestoßen worden. Es war fast taghell gewesen, und trotzdem hatten wir nichts gesehen, bis urplötzlich etwas Rötliches vor der Motorhaube aufgetaucht war. Wir hatten auch nicht gesehen, ob womöglich jemand irgendwo im Gebüsch gesessen hatte, als wir an den Tatort zurückkehrten. Konnte sie nicht sogar schon tot gewesen sein, als das Auto sie getroffen hatte? Warum nicht? Nein, warum nicht? Wir hatten nur »etwas Rötliches vor der Motorhaube« wahrgenommen, diesen Ausdruck benutzten wir immer wieder, die Frau selbst hatten wir nicht gesehen, vielleicht war es nur ihr Tuch, was wir gesehen hatten, ein flatterndes Tuch in der dünnen Luft dort oben, im Wind. Jemand hatte sie bereits getötet und musste nur noch einen tödlichen Unfall arrangieren, um das andere Verbrechen zu überdecken. Vielleicht hatte sie am Straßenrand gelegen und war in ihrem grauen Gewand ohne das rote Tuch um die Schultern nur nicht leicht zu entdecken gewesen. Andererseits war der Zusammenprall stark genug gewesen, um einen Scheinwerfer zu zerbrechen …
Sie war Ausländerin! Dessen waren wir uns am Ende ziemlich sicher. Darum hatte niemand sie als vermisst gemeldet. Und hatten wir nicht außerdem einen ausländischen LKW gesehen? Plötzlich waren wir ganz sicher, dass es ein deutscher gewesen war, ein Stück weiter unten in Hemsedal, bevor … du in den Waldweg abgebogen bist, Steinn.
Vielleicht hatte der LKW-Fahrer sie aufgelesen. Vielleichtgab es auch eine Verbindung zwischen dem weißen Lieferwagen und dem LKW. Es war mitten in der Nacht gewesen. Manche Treffen legt man nicht umsonst mitten in die Nacht.
Wir erfanden die Geschichte von einem deutschen LKW, der aus Ostnorwegen kam, und einer Frau um die fünfzig, die als geheimer Kurier in den Bergen unterwegs war, um einen Lieferwagen aus Westnorwegen zu treffen. Aber selbst mit all unserer spekulativen Kraft kamen wir nicht weiter …
Bist du überhaupt da?
Ja, und ich finde, du hast dir mit deiner Antwort Zeit gelassen. Viel mehr, als auf deine Mail zu warten, habe ich heute nicht getan. Ich bin wie ein Tier im Käfig in meinem Büro hin und her gelaufen und habe gewartet, dass du dich meldest, ich meine, dass du mailst. Neun Quadratmeter misst das Büro, glaube ich. Aber nach und nach habe ich mich beruhigt und mich mit praktischer Arbeit beschäftigt. Ich habe einen ganzen Berg Papiere aufgeräumt, so was macht man ja nur alle fünf Jahre. Sonst spüre ich eine gewisse nagende Rastlosigkeit. Aber erzähl jetzt und fühl dich von meiner Ungeduld nicht unter Druck gesetzt. Ich will dich nicht verleiten, zu kurz oder zu schnell zu schreiben.
Die »letzten Tage« vor unserer Entlarvung wollten kein Ende nehmen, und es wurde eine besonders hochgestimmte Woche, eben weil über allem die Frage lag, wie lange das Glück noch dauern würde. Mit der Ungewissheit konnten wir andererseits auch nicht leben. Dankbar für diese Gnadenfrist, wie wir sie am letzten Tag noch tauften, sprachen wir mit einer gewissen Erwartung darüber, wie Westnorwegen auf die Festnahme von Bonnie & Clyde reagieren würde. Wirmalten uns Zeitungsartikel aus und Schlagzeilen. Dass wir ungeschoren davonkommen und von unserem Verbrechen niemals eingeholt werden würden, erschien uns ausgeschlossen. Und wenn uns da schon aufgegangen wäre, dass wir womöglich unser ganzes Leben mit dem ungelösten Rätsel würden leben müssen? Ich will nicht ausschließen, dass uns auch diese Aussicht in Verzweiflung gestürzt hätte. Unerträglich war es freilich auch, überhaupt nichts zu wissen. Fast eine Woche war vergangen, und noch immer hatten sie in den Nachrichten keine Frau erwähnt, die nachts auf dem Hemsedalsfjell angefahren und brutal ihrem Schicksal überlassen worden war.
Wer war diese Frau, Steinn!!!
Irgendwann hatten wir ein Erklärungsproblem den Besitzern des gemütlichen Hotels gegenüber. Warum gingen wir nicht, wie angekündigt,
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