Die Frau mit dem roten Tuch
hatten wir einen letzten Nachmittag für uns. Wir hatten fast alle Winkel des kleinen Dorfes am Fjord erforscht, aber witzigerweise waren wir noch nicht auf der Berghütte am Ende des Mundalstals gewesen, das gleich hinter dem Hotel beginnt. Es war der einzige Ort, an dem wirnoch nicht gewesen waren. Wenn unser Wagen noch in Hella stand und nicht zur genauen Untersuchung von der Polizei beschlagnahmt worden war, würden wir am nächsten Morgen nach Hause fahren, oder jedenfalls so weit in Richtung Ostnorwegen, wie wir kamen. Wir hielten nichts für selbstverständlich. Und nun wollten wir noch diese eine, letzte Wanderung machen. Sie führte uns zu der Berghütte. Es war wunderbares Wetter, wir hatten in der ganzen Woche so gut wie keinen Regen gehabt.
Nachdem wir uns ein Proviantpaket und eine Thermoskanne mit Tee hatten geben lassen, wanderten wir durchs Mundalstal, so wie wir es vor einigen Wochen noch einmal taten. Du weißt das alles noch, das von neulich wie das vor langer, langer Zeit, das ist mir klar. Trotzdem schreibe ich alles auf, woran ich mich erinnere. Weil ich dich zwingen will, das, was damals geschehen ist, noch einmal sorgfältig zu durchdenken.
Wir kamen am letzten Hof mit der roten Scheune links und dem Schießgelände rechts vom Weg vorüber, hielten uns lange rechts vom schnell dahinströmenden Mundalselv und erreichten endlich Heimestølen. Auf dem Kiesweg mussten wir hin und her hüpfen, um den Schafskötteln und Kuhfladen auszuweichen. Die Kühe und Schafe hatten gerade erst ihre Sommerweiden bezogen.
Wir fühlten uns wohl. Eine Woche war vergangen, und wir konnten nicht wissen, was uns bevorstand. Selbst wenn wir weiter unbehelligt blieben, so wären wir doch von dem, was auf dem Hemsedalsfjell geschehen war, für unser Leben gezeichnet, das war uns inzwischen klar. Wie wir damit leben sollten, wussten wir nicht. Und trotzdem scherzten und lachten wir, waren wir fast wieder die Alten und registrierten mit Wehmut, dass dies unser letzter Tag im Paradies war, in unserem »erotischen Winkel«, wie wir sagten, obwohl an demWinkel selbst natürlich nichts Erotisches war. Das lag ganz allein bei uns, die wir uns dort eine Woche nach Herzenslust vergnügt hatten.
Auch auf dem Weg zur Hütte musst du mich immer wieder anfassen. Einmal willst du auch mehr, und es ist dir Ernst, wir haben das ganze Tal für uns, bettelst du, im Erlengestrüpp kann uns niemand sehen, und es ist warm, aber ich bin abweisend und sage, erst die Berghütte. Dann werden wir sehen, ob du noch Manns genug bist, rufe ich fröhlich. Daran erinnere ich mich gut, denn du hast dich nicht schlecht geärgert. Und dann geschah etwas, das dafür sorgte, dass du an den folgenden Tagen, ja, in den folgenden Wochen zu überhaupt nichts mehr Manns genug warst. Die Wahrheit ist, dass wir seither nie wieder zusammen waren. Wir haben einander seither nicht mehr erkannt, wie es in der Bibel heißt.
Dann also! Zweihundert Meter von Heimestølen entfernt wächst links im Graben neben unserem Weg ein dichter Strauß Fingerhut. Digitalis purpurea. Seine Blüten leuchten frisch und rosa, nein, rot. Ich weiß, man kann sterben, wenn man sie verzehrt, aber ich weiß auch, dass die Blätter des Fingerhuts Leben retten können. Die glockenförmigen Blüten haben etwas Verführerisches. Ich reiße mich von dir los und renne hin, um sie anzufassen. Komm!, sage ich.
Wir bleiben kurz bei dem Fingerhut stehen, wenden uns aber bald nach rechts, wo an einem sachten Hang ein Birkenwäldchen bis an den Weg heranreicht. Zwischen den schwarz-weißen Stämmen liegt eine kleine Lichtung, ein helles grünes Moospolster, und dort steht plötzlich eine Frau mit einem grauen Gewand und einem hellroten Tuch um die Schultern. Das Tuch hat genau die Farbe des Fingerhuts, darüber habe ich danach viel nachgedacht, in den Jahren, die seither vergangen sind, meine ich.
Sie schaut uns aufmerksam an und lächelt. Aber es ist die Frau, die wir auf dem Hemsedalsfjell angefahren haben, Steinn. Es ist, als hätte eine höhere Macht sie plötzlich und nur uns zu Ehren hierher versetzt. Heute weiß ich besser, was sie war und woher sie kam. Aber warte!
Nachher sind wir uns ganz einig, was wir gesehen haben. Wir sind uns einig, dass es die Frau war, die wir vor einer knappen Woche oben in Hemsedal auf dem Fußweg neben der Straße gesehen haben. Sie trägt dasselbe Tuch, eben das, das danach im Heidekraut gelegen hatte, und es ist dieselbe Gestalt. Wir sind also
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