Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Männer Studienzwecke halber als Zuschauer am Bette einer Kreißenden oder bei Operationen weiblicher Kranken teilnehmen, dann ist es lächerlich, weiblichen Studenten nicht das gleiche Recht einräumen zu wollen.
Einen ganz anderen Grund wie die Haller Kliniker führte der verstorbene Professor Bischoff gegen die Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium an, nämlich: die Roheit der Studenten! worüber er wohl am besten urteilen konnte. Doch wie immer man sich von seiten beschränkter oder konkurrenzneidischer Männerkreise zum Studium der Frauen stellte, die Frage ist zugunsten des weiblichen Geschlechtes entschieden. Am 18. August 1908 erschien ein Erlaß, betreffend die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium in Preußen, das bisher Frauen nur als Hörerinnen zuließ. Die Vorschriften für die Studierenden der Landesuniversitäten finden auf Frauen mit der Maßgabe Anwendung, daß Reichsinländerinnen in einem Falle und Ausländerinnen in allen Fällen zur Immatrikulation der Genehmigung des Ministers bedürfen . Die Gesamtzahl der im Wintersemester 1908/09 an den deutschen Universitäten immatrikulierten studierenden Frauen betrug 1.077 gegenüber 377 im Sommer 1908 und 254 in 1906. Davon studierten in Berlin 400, in Bonn 69, in Breslau 50, in Erlangen 11, in Freiburg 67, in Gießen 23, in Göttingen 71, in Greifswald 5, in Halle 22, in Heidelberg 109, in Jena 13, in Kiel 2, in Königsberg 17, in Leipzig 44, in Marburg 27, in München 134, in Tübingen 6, in Würzburg 7. Nur an den Universitäten Straßburg, Rostock und Münster ist das noch nicht der Fall. Die Zahl der Hörerinnen betrug im Sommersemester 1908 1.787 und im Wintersemester 1908/09 1.767, davon in Berlin 313, Straßburg 249, Breslau 168, München 131, Bonn 120, Königsberg 116, Leipzig 95, Gießen 93, Göttingen 73, Tübingen 67, Halle 54, Freiburg 50 und in allen anderen weniger als 50. Von den immatrikulierten Frauen studierten Theologie 3, Jurisprudenz 31, Medizin 334, Philosophie 709.
Die Zulassung der Frauen zum Universitätsstudium machte eine durchgreifende Reform des höheren Mädchenschulwesens notwendig. Die Bestimmungen vom 31. Mai 1899 hatten eine Schulzeit von neun Jahren für die höhere Mädchenschule als Regel vorgesehen und eine zehnjährige Dauer als Ausnahme hingestellt. Demgegenüber drängte die Entwicklung immer stärker auf die feste Einfügung einer zehnten Klasse in den Lehrplan der höheren Mädchenschule. Während nach der Statistik vom Jahre 1901 unter den 213 öffentlichen höheren Mädchenschulen 90 mit neun und 34 mit zehn aufsteigenden Klassen waren, war im Oktober 1907 die Zahl der neunklassigen Schulen von 90 auf 69 gesunken, die Zahl der zehnklassigen dagegen von 54 auf 132 gestiegen. Und auch unter den privaten höheren Mädchenschulen waren im Oktober 1907 neben 110 neunklassigen schon 138 zehnklassige vorhanden. Es blieb nichts übrig, als dieser tatsächlichen Entwicklung das bureaukratische Siegel zu geben und soviel als möglich "die Eigentümlichkeit der deutschen Frau" zu retten. Nach der Reform vom 18. August 1908 soll fortan die höhere Mädchenschule aus zehn aufsteigenden Klassenstufen bestehen. Für "eine Ergänzung ihrer Bildung in der Richtung der künftigen Lebensaufgabe einer deutschen Frau" ist der Aufbau eines zweijährigen oder einjährigen Lyzeums in Aussicht genommen. Und um die Vorbereitung der jungen Mädchen der höheren Stände auch für akademische Berufe zu ermöglichen, sind Studienanstalten geplant, die mit der höheren Mädchenschule unter einer Leitung zu vereinigen sind.
Damit wird ein Experiment, das die Unterrichtsverwaltung noch im März 1902 ablehnte, jetzt von demselben Ministerium nach sechs Jahren, unter dem Drucke der ökonomischen Entwicklung, in einem nationalen Maßstab durchgeführt. Hören wir die offizielle Begründung:
"Die rasche Entwicklung unserer Kultur und die damit gegebene Verschiebung der Gesellschafts-, Erwerbs- und Bildungsverhältnisse der Gegenwart haben es mit sich gebracht, daß gerade in den mittleren und höheren Ständen viele Mädchen unversorgt bleiben und viele für die Gesamtheit wertvolle Frauenkraft brach liegt. Der Überschuß der weiblichen über die männliche Bevölkerung und die zunehmende Ehelosigkeit der Männer in den höheren Ständen zwingen einen größeren Prozentsatz der Mädchen gebildeter Kreise zum Verzicht auf ihren natürlichen Beruf als Gattin und Mutter. Ihnen sind die Wege zu einem
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