Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
wie dort der Wind weht und kriecht und sich schmiegt, gilt mehr als ein Charakter und ein Mann von Können und Wissen. Kommt für diese Streber die Examenzeit, so wird rasch in ein paar Monaten eingepaukt, was unumgänglich notwendig erscheint, um notdürftig bestehen zu können. Ist schließlich das Examen glücklich vorüber und eine amtliche oder berufliche Stellung erlangt, so arbeiten die meisten dieser Studierten nur rein mechanisch und handwerksmäßig fort, sie nehmen es aber sehr übel, wenn ein "Nichtstudierter" ihnen nicht mit der größten Hochachtung begegnet und sie nicht als eine höhere Menschenrasse ansieht und behandelt. Die Mehrzahl der Angehörigen unserer höheren Berufe, der Rechtsanwälte, Richter, Mediziner, Professoren, Beamten, Künstler usw., sind nichts als Handwerker in ihrem Fache, die froh sind, an der Krippe zu stehen . Nur der strebsame Mann entdeckt später erst, wie viel Unnützes er gelernt, oft gerade das nicht lernte, was er am nötigsten braucht, und fängt nun erst an zu lernen. Während des besten Teils seines Lebens hat man ihn mit viel Unnützem oder Schädlichem gequält; einen zweiten Teil des Lebens braucht er, um das Unnütze und Schädliche abzustreifen und sich zur Höhe der Zeitanschauung durchzuarbeiten, und nun erst kann er ein nützliches Glied der Gesellschaft werden. Viele kommen über das erste Stadium nicht hinaus, andere bleiben im zweiten stecken, und wenige haben die Energie, sich zum dritten emporzuarbeiten.
Aber das Dekorum erfordert, daß der mittelalterliche Plunder und der unnütze Lernstoff beibehalten bleibe, und da bisher die Frauen, infolge ihres Geschlechts, von vornherein von den Vorschulen und Präparieranstalten ausgeschlossen waren und vielfach noch sind, so bildet dieser Umstand den bequemen Vorwand, ihnen die Türen zum Hörsaal zu verschließen. In Leipzig machte in den siebziger Jahren einer der berühmtesten Professoren der Medizin einer Dame gegenüber unverhohlen das Geständnis: " Die Gymnasialbildung ist zwar nicht notwendig zum Verständnis der Medizin, aber man muß sie zur Vorbedingung des Eintritts machen, damit das Ansehen der Wissenschaft nicht leidet. "
Allmählich machte sich auch in Deutschland die Opposition gegen die Notwendigkeit der klassischen Bildung für das Studium der Medizin bemerkbar. Die ungeheuren Fortschritte in den Naturwissenschaften und ihre Bedeutung für das gesamte Leben bedingen das Einweihen in dieselben; die gymnasiale Erziehung mit ihrer Bevorzugung der klassischen Sprachen, Griechisch und Latein, betrachtet aber die Naturwissenschaften als minderwertig und vernachlässigt sie, und so kommt es, daß die angehenden Studenten häufig nicht die nötigen naturwissenschaftlichen Vorkenntnisse besitzen, die für gewisse Studienfächer, wie zum Beispiel die Medizin, von entscheidender Bedeutung sind. Gegen diese einseitige Art der Bildung hat sich endlich die Opposition selbst in den Lehrerkreisen erhoben. Im Ausland, zum Beispiel in der Schweiz, hat man längst dem naturwissenschaftlichen Studium das Hauptgewicht beigelegt und läßt jeden, auch ohne die sogenannte klassische Vorbildung, zum Studium der Medizin zu, der ausreichende Vorkenntnisse in den Naturwissenschaften und der Mathematik besitzt.
Im gleichen Sinne handelt man in Rußland, in den Vereinigten Staaten usw.
In Rußland, in dem die Verfolgung und Rechtloshaltung der Juden zu den Staatsmaximen gehört, ist durch einen kaiserlichen Ukas vom Jahre 1897 vorgeschrieben worden, daß in das damals neu zu eröffnende medizinische Fraueninstitut nur 5 Prozent Hörerinnen nichtchristlicher Konfession aufgenommen werden dürfen. Und zwar sollen von diesen nur 3 Prozent von Jüdinnen gestellt werden dürfen, während die übrigen 2 Prozent Hörerinnen muselmännischer Abstammung vorbehalten bleiben sollen. Das einer der Rückschritte, die in Rußland an der Tagesordnung sind. Die russische Regierung hätte um so weniger Ursache zu solchen Bestimmungen, weil es einesteils in dem ungeheuren Reiche noch sehr an Ärzten fehlt und andererseits die russischen Ärztinnen ohne Unterschied des Religionsbekenntnisses oder der Abstammung sich das Zeugnis größter Aufopferung in ihrem Beruf erworben haben. So teilt Prof. Dr. Erismann, der viele Jahre in Rußland tätig war, in einem Vortrag, den er auf der 54. Versammlung des ärztlichen Zentralvereins in Olten hielt, folgendes mit: "Sehr günstige Erfahrungen hatte man in diesen ersten
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