Die Frau und der Sozialismus: Erweiterte Ausgabe (German Edition)
Lesen zweideutiger Romane und in Zotenlektüre, im Besuch frivoler Theaterstücke, im Genuß sinnenkitzelnder Musik, in berauschenden Nervenstimulanzien, in Unterhaltungen über die Skandalaffären aller Art. Oder der Müßiggang und die Langeweile verleitet sie zu galanten Abenteuern, die noch häufiger der Mann sucht. Sie jagt von einem Vergnügen in das andere, von einem Gastmahl zum anderen, und im Sommer eilt sie in die Bäder und Sommerfrischen, um sich von den Strapazen des Winters zu erholen und neue Unterhaltung zu finden. Die Chronique scandaleuse findet bei dieser Lebensweise ihre Rechnung; man verführt und läßt sich verführen.
In den unteren Klassen ist die Geldehe so gut wie unbekannt. In der Regel heiratet der Arbeiter aus Neigung, aber an störenden Ursachen in der Ehe fehlt es nicht. Reicher Kindersegen schafft Sorgen und Mühen, und nur zu oft kehrt die Not ein. Krankheiten und Tod sind in den Arbeiterfamilien häufig gesehene Gäste. Arbeitslosigkeit treibt das Elend auf seinen Gipfel. Und wie vieles schmälert dem Arbeiter den Verdienst oder raubt ihm zeitweilig denselben ganz. Handels- und Industriekrisen machen ihn arbeitslos, die Einführung neuer Maschinen oder Arbeitsmethoden wirft ihn als überzählig aufs Pflaster; Kriege, ungünstige Zoll- und Handelsverträge, Einführung neuer indirekter Steuern, Maßregelung seitens der Unternehmer wegen Betätigung seiner Überzeugung usw. vernichten seine Existenz oder schädigen sie schwer. Bald tritt das eine, bald das andere ein, wodurch er bald längere, bald kürzere Zeit ein Arbeitsloser, das heißt ein Hungernder wird. Unsicherheit ist die Signatur seiner Existenz. Solche Schicksalsschläge erzeugen Mißstimmung und Verbitterung, und diese Stimmung kommt zunächst im häuslichen Leben zum Ausbruch, wenn täglich und stündlich Anforderungen für das Allernotwendigste gestellt werden, die nicht befriedigt werden können. Zank und Streit brechen aus. Ruin der Ehe und Familie ist die Folge.
Oder beide, Mann und Frau, gehen auf Arbeit. Die Kinder sind sich selbst oder der Überwachung älterer Geschwister überlassen, die selbst der Überwachung und Erziehung bedürften. In fliegender Eile wird in der Mittagstunde das meist elende Essen hinabgeschlungen, vorausgesetzt, daß die Eltern überhaupt Zeit haben, nach Hause zu eilen, was in Tausenden von Fällen wegen der Entfernung der Arbeitsstätte von der Wohnung und der Kürze der Pausen nicht möglich ist; müde und abgespannt kehren beide abends heim. Statt einer freundlichen, anmutenden Häuslichkeit finden sie eine enge, ungesunde Wohnung, die oft der Luft und des Lichtes entbehrt, und in der meist auch die nötigsten Bequemlichkeiten fehlen. Die zunehmende Wohnungsnot mit den daraus erwachsenden entsetzlichen Mißständen ist eine der dunkelsten Seiten unserer sozialen Ordnung, die zu zahlreichen Übeln, zu Lastern und Verbrechen führt. Und die Wohnungsnot wird trotz aller Versuche zur Abhilfe in den Städten und Industriebezirken mit jedem Jahre größer. Immer weitere Schichten werden von ihr erfaßt: kleine Gewerbetreibende, Beamte, Lehrer, kleine Kaufleute usw. Die Frau des Arbeiters, die abends müde und abgehetzt nach Hause kommt, hat von neuem alle Hände voll zu tun; Hals über Kopf muß sie arbeiten, um in der Wirtschaft nur das Notwendigste instand zu setzen. Die Kinder werden eiligst ins Bett gebracht, die Frau sitzt und näht und flickt bis in die späte Nacht. Die ihr so nötige Unterhaltung und Aufrichtung fehlt ihr. Der Mann ist oft unwissend, die Frau weiß noch weniger, und das Wenige, was man sich sonst zu sagen hat, ist rasch erledigt. Der Mann geht ins Wirtshaus, um dort die Annehmlichkeiten zu finden, die ihm zu Hause fehlen; er trinkt, und ist es noch so wenig, er verbraucht für seine Verhältnisse zu viel. Unter Umständen verfällt er dem Laster des Spieles, das auch in den höheren Kreisen der Gesellschaft viele Opfer fordert, und verliert noch mehr, als er vertrinkt. Unterdes sitzt die Frau zu Hause und grollt; sie muß wie ein Lasttier arbeiten, für sie gibt es keine Ruhepause und Erholung; der Mann benutzt, so gut er kann, die Freiheit, die ihm der Zufall gibt, als Mann geboren zu sein. So entsteht die Disharmonie. Ist aber die Frau weniger pflichtgetreu, sucht sie am Abend, nachdem sie müde von der Arbeit heimgekehrt ist, eine berechtigte Erholung, so geht die Wirtschaft rückwärts, und das Elend ist doppelt groß. Aber wir leben trotzdem in "der
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