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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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von ihrem Sitz aus geblickt hatte, auf die Fenster zu. Dabei bemerkte sie, mit welcher besondern Sorgfalt der Gärtner diesen Weg, der seit einiger Zeit vernachlässigt gewesen war, geharkt hatte. Als Madame d'Aiglemont unter den Fenstern ihrer Tochter angelangt war, wurden die Läden brüsk zugeschlagen.
    »Moina!« rief sie. Keine Antwort. »Madame la Comtesse befindet sich in dem kleinen Salon«, sagte die Kammerzofe Moinas, als die Marquise die Wohnung betreten und sich erkundigt hatte, ob ihre Tochter aufgestanden sei.
    Madame d'Aiglemont war zu bekümmert und zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, um in diesem Augenblick diese kleinen Umstände auffällig zu finden. Sie trat rasch in den Salon ein, wo sie die Comtesse im Negligé fand, mit nachlässig unter einem Häubchen geordneten Haaren, die Füße in Pantöffelchen. Den Schlüssel zu ihrem Zimmer hatte sie im Gürtel stecken, auf ihrem lebhaft geröteten Gesicht prägten sich stürmische Gedanken. Sie saß auf einem Diwan und schien nachzudenken.
    »Was gibt es?« fragte sie unfreundlich. »Ach, Sie sind es, Mutter«, fuhr sie dann mit zerstreuter Miene fort, nachdem sie sich selbst unterbrochen hatte. »Ja, mein Kind, ich bin es – deine Mutter ...«
    Der Ton, mit dem Madame d‘Aiglemont diese Worte sprach, war von solch schmerzlicher, innerster Bewegung durchzittert, daß es schwer wäre, einen Begriff davon zu geben, ohne das Wort ›heilig‹ anzuwenden. Über ihrem ganzen Wesen lag in diesem Augenblick in der Tat so sehr der heilige Charakter einer Mutter, daß ihre Tochter davon betroffen war und sich mit einer Bewegung zu ihr wandte, die zugleich Achtung, Scheu und Gewissensbisse ausdrückte. Die Marquise schloß die Tür dieses Salons, in den niemand eintreten konnte, ohne daß er schon von weitem gehört wurde. Diese Entfernung schützte vor jeder Indiskretion.
    »Liebe Tochter«, sagte die Marquise, »es ist meine Pflicht, dich über eine der wichtigsten Krisen in unserm Frauenleben aufzuklären, in der du dich, vielleicht ohne es zu wissen, befindest, aber von der ich, weniger als Mutter denn als Freundin, mit dir sprechen muß. Du bist verheiratet und also Herrin deiner Handlungen geworden; du bist nur deinem Manne dafür Rechenschaft schuldig; aber ich habe dich die mütterliche Autorität so wenig fühlen lassen – es war vielleicht Unrecht –, daß ich mich im Recht glaube, wenn ich dich nötige, mich in der schwierigen Situation, in der du der Ratschläge bedarfst, anzuhören. Denke daran, Moina, daß ich dich mit einem Manne von großen Fähigkeiten verheiratet habe, auf den du stolz sein kannst, daß ...« – »Ach, Mutter«, unterbrach Moina sie unwillig, »ich weiß schon, was Sie mir sagen wollen ... Sie wollen mir wegen Alfred eine Moralpredigt halten...« – »Sie würden das nicht so gut erraten, Moina«, versetzte die Marquise, die ihre Tränen zurückzuhalten strebte, »wenn Sie nicht fühlten ...« – »Was?« gab sie hochmütig zurück; »wirklich, Mutter, ich weiß nicht...« – »Moina!« rief Madame d'Aiglemont mit äußerster Kraftanspannung, »Sie müssen aufmerksam anhören, was ich Ihnen zu sagen habe ...« – »Ich höre«, sagte die Comtesse und kreuzte die Arme in höhnischer Unterwürfigkeit; »gestatten Sie«, fügte sie dann mit unglaublicher Kaltblütigkeit hinzu, »daß ich zuerst mal Pauline rufe, um sie wegzuschicken...« Sie klingelte. »Mein liebes Kind, Pauline kann nicht hören ...« – »Mama«, erwiderte darauf die Comtesse mit einem besonderen Ton, der der Mutter hätte auffallen müssen, »ich muß ...« Sie verstummte, das Kammermädchen trat herein. »Pauline, gehen ›Sie selbst‹ zu Baudran, um zu hören, warum ich meinen Hut noch nicht habe.«
    Sie setzte sich wieder und sah ihre Mutter aufmerksam an. Das Herz der Marquise schlug so heftig, als wolle es zerspringen. Sie empfand eine jener heftigen Erregungen, deren Schmerz nur von Müttern verstanden werden kann. Ihr Auge blieb ohne Tränen, als sie das Wort ergriff, um Moina die Gefahr, in die sie lief, vorzustellen. Aber sei es, daß Moina sich wegen des Verdachts, den ihre Mutter in bezug auf den Sohn des Marquis de Vandenesse hegte, gekränkt fühlte oder daß sie sich einer jener tollen Anwandlungen, wie sie manchmal über junge, unerfahrene Menschen kommen, nicht erwehren konnte, kurz, sie benutzte eine Pause, die ihre Mutter eintreten ließ, um ihr mit einem gezwungenen Lachen die Worte ins Gesicht zu schleudern: »Aber

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