Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Mama, ich dachte, du seist nur auf den Vater eifersüchtig ...«
Bei diesen Worten schloß Madame d'Aiglemont die Augen, neigte den Kopf und stieß einen unhörbar leisen Seufzer aus. Sie richtete den Blick nach oben, als folge sie dem unwiderstehlichen Gefühl, das einen zwingt, in den schweren Krisen des Lebens Gott anzurufen. Dann heftete sie ihre Augen, aus denen furchtgebietende Hoheit und unermeßliches Leid sprachen, auf ihre Tochter und sagte tieferschüttert: »Du bist gegen deine Mutter unbarmherziger gewesen, meine Tochter, als der Mann, der von ihr beleidigt wurde, unbarmherziger, als es vielleicht Gott sein wird!«
Sie stand auf; an der Tür drehte sie sich noch einmal um, sah in den Augen ihrer Tochter nur Erstaunen, ging hinaus und konnte noch den Garten erreichen. Da verließen sie ihre Kräfte. Sie fühlte einen heftigen Schmerz am Herzen und fiel auf eine Bank. Ihre Augen, die über den Sand irrten, entdeckten den frischen Abdruck der Fußtritte eines Mannes, dessen Stiefelspuren sich deutlich sichtbar eingedrückt hatten. Ohne Zweifel, ihre Tochter war verloren, sie glaubte nun auch zu wissen, warum sie Pauline jenen Auftrag erteilt hatte. Diesem grausamen Gedanken folgte eine Entdeckung, die ihr widerwärtiger war als alles, was sie bisher erfahren hatte. Sie mußte annehmen, daß der Sohn des Marquis de Vandenesse in Moinas Herzen die Achtung zerstört hatte, die eine Tochter ihrer Mutter schuldet. Ihre Schmerzen wuchsen, nach und nach verlor sie die Besinnung und lag da, als sei sie eingeschlafen. Die junge Comtesse fand, daß ihre Mutter sich zuviel herausgenommen hätte, dachte aber, eine Liebkosung und ein paar Aufmerksamkeiten am Abend würden sie schon versöhnlich stimmen. Als sie einen Aufschrei im Garten hörte, beugte sie sich nachlässig aus dem Fenster, gerade als Pauline, die noch nicht weggegangen war, um Hilfe rief und die Marquise in den Armen hielt. »Erschreckt meine Tochter nicht!« war das letzte Wort, das diese Mutter sprach.
Moina sah, wie ihre Mutter hereingetragen wurde, die, bleich und leblos, mühsam nach Atem rang, jedoch mit den Armen fuchtelte, als wolle sie sich zur Wehr setzen oder reden. Von diesem Anblick niedergeschmettert, folgte Moina ihrer Mutter, half schweigend, sie auf ihr Bett niederzulegen und sie zu entkleiden. Ihre Schuld drückte sie nieder. In diesem letzten Augenblick, wo sich nichts mehr gutmachen ließ, enthüllte sich ihr die Seele ihrer Mutter. Sie wollte mit ihr allein sein; und als niemand mehr im Zimmer war, als sie die Kälte dieser Hand fühlte, die für sie stets so zärtlich gewesen war, zerfloß sie in Tränen. Von diesen Tränen geweckt, konnte die Marquise Moina noch einmal anschauen; und während des heftigen Schluchzens, das die zarte Brust der Tochter fast zu sprengen drohte, glitt ein Lächeln über die Züge der Sterbenden. Dieses Lächeln war für die junge Muttermörderin das Zeichen, daß das Herz einer Mutter ein Abgrund ist, dessen Tiefe immer ein Verzeihen birgt.
Sowie man den Zustand der Marquise erkannt hatte, wurden Diener zu Pferde nach dem Arzt, dem Wundarzt und den Enkelkindern Madame d'Aiglemonts geschickt. Die junge Marquise und ihre Kinder trafen zur gleichen Zeit mit den Männern der Wissenschaft ein und bildeten eine recht beachtliche, schweigsame und aufgeregte Versammlung, unter die sich die Dienstboten mischten. Da die junge Marquise keinen Laut hörte, klopfte sie leise an die Tür. Auf dieses Zeichen stieß Moina, die wahrscheinlich aus ihrem Schmerz geweckt worden war, die beiden Flügel der Tür heftig zurück, warf auf die Familienversammlung einen verstörten Blick und bot ein Bild tiefster Bestürzung, so daß es keiner Worte mehr bedurfte. Beim Anblick dieser verkörperten Reue blieb jeder stumm. Man konnte die Beine der Marquise erkennen, die starr und zusammengekrampft auf dem Totenbett lagen. Moina lehnte sich an die Tür, blickte ihre Verwandten an und sagte mit hohler Stimme: »Ich habe meine Mutter verloren!«
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