Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
schrecklichsten in meinem Leben.« – »Ich habe nichts gehört«, erwiderte die Marquise; »aber ich werde die Wirtin aufsuchen, liebes Kind, und das danebenliegende Zimmer verlangen; wir werden dann allein und nicht gestört sein. Wie fühlst du dich heute morgen? Bist du müde?« Bei den letzten Worten war die Marquise aufgestanden und an das Bett Moinas getreten. »Laß sehen!« sagte sie und ergriff die Hand ihrer Tochter. »O laß mich, Mutter«, gab Moina zur Antwort, »deine Hände sind so kalt.« Das junge Mädchen wand sich unmutig auf ihrem Kopfkissen, doch mit so viel Grazie, daß es einer Mutter schwer werden mußte, sich gekränkt zu fühlen. In diesem Augenblick erscholl aus dem Nachbarzimmer ein langer, herzzerreißender sanfter Klageton. »Aber wenn du das die ganze Nacht hindurch gehört hast, warum hast du mich nicht aufgeweckt? Wir hätten ...« Ein neues Stöhnen, tiefer als vorher, ließ die Marquise stocken: »Da liegt jemand im Sterben!« rief sie und ging rasch aus dem Zimmer. »Schicke mir Pauline!« rief Moina, »ich will mich ankleiden.« Die Marquise eilte in den Hof hinunter, wo sie die Wirtin von mehreren Personen umringt sah, die ihr aufmerksam zuzuhören schienen. »Madame, Sie haben uns neben jemand einlogiert, der sehr zu leiden scheint...« – »Ach, reden Sie nicht davon!« rief die Wirtin, »ich habe soeben nach dem Bürgermeister geschickt. Denken Sie sich, es ist eine arme, unglückliche Frau, die gestern abend zu Fuß hier angekommen ist; sie kommt aus Spanien und ist ohne Paß und ohne Geld. Sie trug auf ihrem Rücken ein sterbendes kleines Kind. Ich konnte nicht umhin, sie hier aufzunehmen. Heute früh habe ich selbst nach ihr gesehen; denn gestern, als sie hier anlangte, hat sie mir schrecklich leid getan. Die arme kleine Frau. Sie lag da mit ihrem Kind, und beide kämpften mit dem Tode ... Sie zog einen goldenen Ring von ihrem Finger und sagte zu mir: ›Madame, ich besitze nur noch dies, nehmen Sie ihn als Zahlung; es wird genügen, mein Aufenthalt hier wird kein langer sein. Armes Kind, wir werden zusammen sterben‹, hat sie gesagt, indem sie ihr Kind ansah. Ich nahm ihren Ring und fragte, wer sie sei. Aber sie wollte mir ihren Namen beileibe nicht sagen ... Ich habe nun eben nach dem Arzt und dem Bürgermeister geschickt.« – »Lassen Sie ihr alle Hilfe angedeihen, die nötig ist«, sagte hierauf die Marquise; »mein Gott, vielleicht ist sie noch zu retten. Ich werde Ihnen alle ihre Auslagen bezahlen.« – »Ach, Madame, sie scheint mir ganz schön stolz zu sein, und ich weiß nicht, ob sie es zulassen wird.« – »Ich will sie sehen ...«
Und sogleich begab sich die Marquise zu der Unbekannten, ohne daran zu denken, daß ihr Anblick – sie trug noch Trauerkleider – diese Frau, die, wie es hieß, im Sterben lag, in einem solchen Augenblick schmerzen könnte. Die Marquise erbleichte beim Anblick der Sterbenden. Trotz der entsetzlichen Leiden, die das schöne Gesicht Hélènes verwandelt hatten, erkannte sie ihre älteste Tochter.
Als Hélène eine schwarzgekleidete Frau eintreten sah, richtete sie sich auf, stieß einen Schrei des Entsetzens aus, als sie in dieser Frau ihre Mutter erkannte, und sank langsam in ihr Bett zurück. »Meine Tochter«, sagte Madame d'Aiglemont, »was fehlt dir? Pauline! ... Moina! ...« – »Mir fehlt nichts mehr«, erwiderte Hélène mit schwacher Stimme; »ich hoffte meinen Vater wiederzusehen, aber Ihre Trauer verkündet mir...« Sie vollendete nicht. Sie drückte ihr Kind an ihre Brust, als wolle sie es erwärmen, küßte es auf die Stirn und heftete auf ihre Mutter einen Blick, der noch nicht frei von Vorwurf, wenn auch durch Verzeihung gemildert war. Die Marquise wollte diesen Vorwurf nicht sehen; sie vergaß, daß Hélène ein Kind war, das sie ehemals in Tränen und Verzweiflung empfangen hatte, das Kind der Pflicht, ein Kind, das die Ursache ihrer schwersten Kümmernisse gewesen war. Sie näherte sich sanft ihrer ältesten Tochter, einzig in dem Gefühl, daß Hélène die erste gewesen, die ihr die Süße der Mutterschaft zu kosten gegeben hatte. Die Augen der Mutter standen voll Tränen, sie küßte ihre Tochter und rief: »Hélène, mein Kind! ...« Hélène schwieg. Sie hatte soeben den letzten Seufzer ihres letzten Kindes aufgefangen.
In diesem Augenblick traten Moina, Pauline, ihre Kammerzofe, die Wirtin und ein Arzt ins Zimmer. Die Marquise hielt die eiskalte Hand ihrer Tochter in der ihren und sah sie mit
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