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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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daß er eben neun Menschen ins Meer werfen ließ!« – »Wahrscheinlich mußte es geschehen«, gab sie zurück, »denn er ist menschlich und großmütig. Er vergießt so wenig Blut als möglich, um die Interessen der kleinen Welt, die er beschützt, und der heiligen Sache, die er verteidigt, zu wahren. Reden Sie mit ihm über das, was Ihnen schlecht erscheint, und er wird Ihren Sinn zu ändern wissen!« – »Und sein Verbrechen?« sagte der General, als spräche er zu sich selber. »Wenn es nun aber eine Tugend wäre?« versetzte sie mit kalter Würde; »wenn die menschliche Justiz ihn nicht hätte rächen können?« – »Sein eigener Rächer sein!« rief der General. »Was ist denn die Hölle anderes als eine ewige Rache für die Vergehen eines Tages?« – »Ah, du bist verloren! Er hat dich behext, dir den Sinn verkehrt. Du redest wider alle Vernunft.« – »Bleiben Sie einen Tag bei uns, Vater, und wenn Sie ihm zuhören, ihn ansehen wollen, werden Sie ihn lieben.« – »Hélène«, sagte der General bedeutungsvoll, »nur einige Meilen trennen uns von Frankreich ...« Sie erbebte, tat einen Blick durch das Fenster und zeigte auf das Meer, das seine ungeheuren grünen Wogen vor sich herrollte. »Dies hier ist meine Heimat«, erwiderte sie und klopfte mit der Fußspitze auf den Teppich. »Aber willst du denn nicht deine Mutter, deine Schwester, deine Brüder wiedersehen?« – »O ja«, sagte sie mit Tränen in der Stimme, »wenn er es will und wenn er mich begleiten kann.« – »Du hast also weder Vaterland noch Familie mehr«, fuhr der General in strengem Tone fort. »Ich bin seine Frau«, gab sie stolz und würdevoll zurück; »seit sieben Jahren ist dies die erste Freude, die ich nicht von ihm empfange«, dabei ergriff sie die Hand ihres Vaters und küßte sie, »und der erste Vorwurf, der mir gemacht worden ist.« – »Und dein Gewissen?« – »Mein Gewissen? Aber das ist er.« In demselben Augenblick fuhr sie heftig zusammen. »Da ist er«, sagte sie; »selbst während eines Kampfes, unter allen Schritten, erkenne ich den seinen auf dem Deck.« Und plötzlich färbte eine Röte ihre Wangen und ließ ihre Züge erstrahlen, ihre Augen sprühen und ihre Haut in mattem Weiß schimmern. Glück und Liebe sprach aus ihrem Körper, aus ihren Adern, ihren Muskeln, aus dem unwillkürlichen Erbeben ihrer ganzen Gestalt. Den General rührte diese tiefe Gefühlsbewegung. In der Tat trat gleich darauf der Korsar ein, ließ sich auf einen Sessel nieder, zog seinen ältesten Sohn zu sich heran und fing an, mit ihm zu spielen. Es herrschte eine Weile Schweigen, der General, von Träumerei wie von einem Luftgebilde umfangen, betrachtete diese elegante Kabine, die einem Nest von Eisvögeln glich, wo diese Familie seit sieben Jahren zwischen Himmel und Wasser dahinschwamm, von dem Willen eines einzigen durch die Gefahren der Kriege und Stürme geleitet, wie inmitten der sozialen Mißgeschicke ein Familienoberhaupt seine Angehörigen durchs Leben führt. Er blickte mit Bewunderung auf seine Tochter, die dem phantastischen Bild einer Meeresgöttin glich, voll lieblicher Schönheit, voll Glück; vor dem Reichtum ihrer Seele, ihren strahlenden Augen und der unbeschreiblichen Poesie, die ihr Wesen in sich trug und um sich her verbreitete, mußten alle Schätze, die sie umgaben, verblassen. Es lag eine Fremdartigkeit in diesem Lebenskreis, die ihn überwältigte, eine Kraft und Hoheit der Leidenschaft und der Denkungsart, die alle herkömmlichen Anschauungen über den Haufen warf. Die kalten engherzigen Berechnungen der Gesellschaft wurden vor diesem Bilde zunichte. Der alte Soldat fühlte dies alles und begriff, daß seine Tochter niemals ein Leben aufgeben würde, das so schrankenlos, so reich an Kontrasten, von einer so echten Liehe ausgefüllt war, und daß sie überdies, nachdem sie erst einmal die Gefahr gekostet hatte, ohne davor zurückzuschrecken, nie mehr in die kleinliche Enge einer armseligen, beschränkten Welt zurückkehren könne.
    Der Korsar brach die Stille mit einem Blick auf seine Frau und fragte: »Störe ich?« – »Nein«, erwiderte der General, »Hélène hat mir alles erzählt. Ich sehe, daß sie für uns verloren ist ...« – »Nein«, fiel ihm der Korsar lebhaft ins Wort; »noch ein paar Jahre, dann erlischt meine Schuld, und ich kann nach Frankreich zurückkehren. Wenn das Gewissen rein ist und das Vergehen gegen eure Gesetze einem innern Gebot entsprang ...« Er hielt inne, als verschmähe er,

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