Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Sympathie, die unerklärlich scheint oder über die die Eingeweihten hinreichenden Aufschluß geben könnten. Die reizende Gestalt Moinas, der Klang der geliebten Stimme, ihre Manieren, ihr Gang, ihr Gesichtsausdruck, ihre Gebärden, alles weckte in der Marquise die tiefsten Empfindungen, die ein Mutterherz erfreuen, ängstigen oder entzücken können. Der Ursprung ihres gegenwärtigen, zukünftigen und vergangenen Lebens ruhte in dem Herzen dieser jungen Frau, der sie alle ihre Schätze in den Schoß geworfen hatte. Moina hatte ihre vier ältesten Geschwister zu ihrem Glück überlebt. Madame d'Aiglemont hatte in der Tat auf unglückseligste Art und Weise – wie die Leute der Gesellschaft munkelten – eine schöne Tochter, deren Schicksal beinahe unbekannt war, und einen Knaben, der mit fünf Jahren durch einen schrecklichen Unfall ums Leben kam, verloren. Die Marquise erblickte zweifelsohne eine Fügung des Himmels darin, daß das Schicksal ihr am meisten geliebtes Kind verschont hatte, und sie widmete ihren der Willkür des Todes zum Opfer gefallenen Kindern nur ein schwaches Andenken, das so von andern Gefühlen verdeckt war, wie die Gräber auf einem ehemaligen Schlachtfelde allmählich verschwinden und von Gras und Blumen überwuchert werden. Die Welt hätte von der Marquise vielleicht strenge Rechenschaft für diese Gleichgültigkeit und diese Vorliebe verlangen können; aber in Paris stürzt das Leben in einem solchen Strom von Ereignissen, Moden, neuen Ideen vorwärts, daß die Vergangenheit Madame d'Aiglemonts dort schon der Vergessenheit angehörte. Niemand dachte daran, ihr eine Kälte der Empfindung zum Verbrechen zu stempeln, die niemand interessierte, während ihre ungewöhnliche Zärtlichkeit gegen Moina für viele Leute von Interesse war und wie alle Vorurteile etwas Unantastbares an sich hatte. Im übrigen ging die Marquise nur noch wenig in Gesellschaft, und den meisten Familien, die sie kannten, erschien sie gut, sanft, fromm, nachsichtig. Gehört nicht schon ein sehr lebhaftes Interesse dazu, um über diesen Anschein, mit dem sich die Gesellschaft begnügt, hinauszugehen. Im übrigen, was verzeiht man nicht alles den alten Leuten, wenn sie wie die Schatten hinschwinden und nur noch eine Erinnerung sein wollen! Madame d'Aiglemont wurde also den Vätern von den Kindern, den Schwiegermüttern von ihren Schwiegersöhnen als Muster hingestellt. Sie hatte vor der Zeit Moina ihren Besitz abgetreten und lebte nur noch in dem Glück der jungen Comtesse, durch sie und für sie. Wenn vorsichtige Greise, grämliche Onkel dieses Vorgehen tadelten und sagten: »Madame d'Aiglemont wird es vielleicht eines Tages bereuen, ihr Vermögen aus den Händen gegeben zu haben; denn mag sie auch das Herz ihrer Tochter kennen, kann sie sich ebenso sicher auf ihren Schwiegersohn verlassen?« ... dann erhob sich gegen diese Propheten ein Gezeter, und von allen Seiten regnete es Lobreden auf Moina. »Man muß es anerkennen, daß Madame de Saint-Héreen dafür gesorgt hat, die Gewohnheiten ihrer Mutter in nichts zu beeinträchtigen«, meinte eine junge Frau. »Madame d'Aiglemont hat eine wundervolle Wohnung, einen Wagen zu ihrer Verfügung und kann ganz wie früher in Gesellschaft gehen ...« – »Nur nicht in die Italienische Oper«, versetzte ganz leise ein alter Schmarotzer, einer von denen, die das Recht zu haben glauben, ihre Freunde mit Bosheiten zu überhäufen, um damit Proben von Unabhängigkeit abzulegen; »die alte Dame liebt nur noch die Musik, woraus sich vermutlich ihre angebetete Tochter nichts macht. Sie war seinerzeit so ausnehmend musikalisch! Aber da die Loge der Comtesse immer von jungen Schmetterlingen umflattert ist, und sich die Kleine, die schon für eine recht kokette Person gehalten wird, mit ihrer Gegenwart genieren würde, geht die arme Mutter nie mehr in die Oper.« – »Madame de Saint-Héreen gibt für ihre Mutter entzückende Abende, hält einen Salon, wo ganz Paris hingeht«, sagte ein heiratsfähiges junges Mädchen. »Einen Salon, wo sich niemand um die Marquise kümmert«, gab der Schmarotzer zur Antwort. »Immerhin ist Madame d'Aiglemont niemals allein«, ließ sich ein junger Geck vernehmen, der die Meinung der jungen Dame unterstützen wollte. »Am Morgen«, sagte der alte Beobachter wieder leise, »schläft die teure Moina. Um vier Uhr befindet sich die teure Moina im Bois. Am Abend geht die teure Moina zum Ball oder in die Italienische ... Aber es ist wahr, daß Madame
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