Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
enthüllt nichts; alle inneren Feuer verschmelzen so innig mit dem Glanz, der aus ihren vor Leben blitzenden Augen strahlt, daß auch die vorübergehende Flamme des Leidens dort nur als ein Reiz mehr erscheint. Nichts ist so verschwiegen wie ein junges Gesicht, weil nichts unbeweglicher ist. Das Antlitz einer jungen Frau hat die Ruhe, die Glätte, die Frische eines hellen Wasserspiegels. Das Gesicht einer Frau fängt erst mit dreißig Jahren an ausdrucksvoll zu werden. Bis dahin findet der Maler auf ihren Gesichtern nur Rot und Weiß, nur ein Lächeln und einen Ausdruck, die einen einzigen Gedanken wiederholen, Jugend und Liebe, einen einförmigen Gedanken ohne Tiefe; aber im Alter sind alle Saiten der Frau zum Klingen gekommen: die Leidenschaften haben sich auf ihrem Gesicht eingegraben; sie ist Geliebte, Gattin, Mutter gewesen; die heftigsten Empfindungen der Freude und des Schmerzes haben sie gepeinigt, ihre Züge verzerrt und sie mit tausend Fältchen durchzogen, die alle eine Sprache reden; ein Frauenkopf wird dann erhaben von Grauen, schön von Trauer oder herrlich von Ruhe – wenn es erlaubt ist, das seltsame Bild fortzusetzen: der ausgetrocknete See weist noch alle Spuren der wilden Bäche auf, die ihn angefüllt haben; der Kopf einer alten Frau gehört nicht mehr der Gesellschaft, die leichtfertig ist und davor zurückschreckt, die Zerstörung aller ihrer Begriffe von Eleganz darin zu gewahren, an die sie gewöhnt ist, und ebensowenig gehört er den gewöhnlichen Künstlern, die nichts darin zu entdecken vermögen, sondern den wirklichen Dichtern, denjenigen, die ein Gefühl für das Schöne haben, das von allen Konventionen, auf welchen so viele Vorurteile in der Kunst und der Schönheit beruhen, unabhängig ist.
Obwohl Madame d'Aiglemont einen modernen Kapotthut trug, konnte man doch sehen, daß ihr ehemals schwarzes Haar von schmerzlichen Gemütserregungen vollkommen gebleicht war; aber die Art, wie sie es glatt gescheitelt herabfallen ließ, verriet ihren guten Geschmack, offenbarte die anmutigen Gewohnheiten der eleganten Frau und ließ die welke, runzlige Stirn, auf der sich noch Spuren ihres einstigen Glanzes fanden, vollendet hervortreten. Der Schnitt ihres Gesichts, die Regelmäßigkeit ihrer Züge gaben einen wenn auch schwachen Begriff von ihrer früheren Schönheit, auf die sie hatte stolz sein dürfen; aber noch mehr zeugten diese Zeichen von dem Leid, das grausam genug gewesen war, ihr Antlitz auszumergeln, die Schläfen eintrocknen, die Wangen einfallen zu lassen, die Augenlider wund zu machen und sie der Wimpern, die den Blick so anmutig zieren, zu berauben. Alles war still geworden in dieser Frau: ihr Gang und ihre Bewegungen hatten jene schwere, gemessene Langsamkeit, die Ehrfurcht einflößt. Die Bescheidenheit ihres Wesens hatte sich infolge der seit mehreren Jahren angenommenen Gewohnheit, vor ihrer Tochter in den Hintergrund zu treten, in Schüchternheit verwandelt. Dann sprach sie wenig, und ihre Rede war sanft, wie die Sprache all derer, die gezwungen sind nachzudenken, sich zu sammeln und in sich selbst zu leben. Diese Haltung und dieses Verhalten flößten ein unbestimmbares Gefühl ein, das weder Furcht noch Mitleid war, in dem jedoch auf geheimnisvolle Weise alle die Gedanken ineinanderflossen, die diese verschiedenartigen Gefühle wecken. Schließlich zeugten die Eigenart und Anordnung ihrer Falten und Runzeln, ihr erloschener, wehmutsvoller Blick beredt von Tränen, die vom Herzen aufgesogen werden und nie über den Rand der Lider treten. Die Unglücklichen, die es gewohnt sind, den Himmel in ihren Leiden anzurufen, hätten sofort in den Augen dieser Mutter die schmerzliche Gewohnheit unablässigen Betens erkannt und die leisen Spuren jener heimlichen Wunden, die schließlich die Blüten der Seele, sogar das Muttergefühl, zerstören. Die Maler haben Farben für solche Bildnisse; aber die Gedanken und die Worte vermögen nicht, sie getreulich wiederzugeben. In den Tönen der Haut, den Mienen des Gesichts bergen sich Eigentümlichkeiten, die die Seele nur mit dem Auge erfaßt, aber der Dichter hat kein anderes Mittel, solche entsetzlichen Veränderungen des Gesichtsausdrucks zu schildern, als die Erzählung der Begebenheiten, die dazu geführt haben. Dieses Antlitz, sprach von einem stillen kalten Orkan, von einem verzweifelten Kampf zwischen dem Heroismus des Mutterschmerzes und der Schwäche unserer Empfindungen, die endlich sind wie wir und in denen es nichts Unendliches
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