Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
gibt. Diese unablässig zurückgedrängten Qualen hatten mit der Zeit dieser Frau etwas irgendwie Krankhaftes, Zerbrechliches verliehen. Gewiß, Erregungen, die zu heftig waren, hatten dieses Mutterherz physisch verändert, und eine Krankheit, vielleicht eine Herzerweiterung, zehrte an Julie, ohne daß sie es wußte. Die wirklichen Qualen sind scheinbar sehr still in dem tiefen Bett, das sie sich ausgewühlt haben und in dem sie zu schlafen scheinen, während sie in Wahrheit immerzu an der Seele nagen, wie die schreckliche Säure, die das Kristall ätzt. Zwei Tränen liefen der Marquise in diesem Augenblick die Wange herab, und sie stand auf, als hätte ein Gedanke, noch bohrender als alle anderen, sie heftig getroffen. Sie hatte sicherlich an Moinas Zukunft gedacht, und indem sie die Schmerzen voraussah, die ihre Tochter erwarteten, waren ihr wieder alle Schicksalsschläge ihres eigenen Lebens schwer aufs Herz gefallen.
Man wird die Lage dieser Mutter verstehen, wenn wir die der Tochter schildern.
Der Comte de Saint-Héreen war seit etwa einem halben Jahr verreist, um sich einer politischen Mission zu entledigen. Während dieser Abwesenheit hatte sich Moina, die alle Eitelkeiten eines Modepüppchens mit den kapriziösen Launen eines verzogenen Kindes verband, damit vergnügt – aus Leichtsinn oder aus einer der tausend Koketterien des Weibes, vielleicht um ihre Macht zu erproben –, mit der Leidenschaft eines geschickten, aber herzlosen Mannes zu spielen, der vorgab, er sei trunken vor Liebe, nur daß sich mit dieser Liebe der ganze eitle Ehrgeiz des Gecken verband, der in der Gesellschaft hochkommen wollte. Madame d'Aiglemont, deren lange Erfahrung sie gelehrt hatte, das Leben zu kennen, die Menschen zu beurteilen und die Gesellschaft zu fürchten, hatte die Fortschritte dieser Affäre beobachtet und ahnte voraus, daß ihre Tochter zugrunde gehen werde, da sie sie in die Hände eines Mannes gefallen sah, dem nichts heilig war. Mußte es nicht entsetzlich für sie sein, in dem Manne, den Moina mit Vergnügen erhörte, einen Roué zu finden? Ihr geliebtes Kind befand sich also am Rand eines Abgrundes. Das war ihr zu furchtbarer Gewißheit geworden, und sie wagte sie doch nicht zurückzurufen, denn sie zitterte vor der Comtesse. Sie wußte im voraus, daß Moina auf keine ihrer weisen Warnungen hören würde; sie hatte keine Macht über dieses Herz, das für sie aus Eisen, für andere aus Wachs zu sein schien. Ihre zärtliche Liebe hätte sie dazu gebracht, Anteil an einer unglücklichen Liebe zu bekunden, die von den edlen Eigenschaften des Verführers gerechtfertigt worden wäre; aber ihre Tochter ließ sich lediglich von ihrer Koketterie lenken, und die Marquise verachtete den Comte Alfred de Vandenesse, da sie wußte, daß dieser Mann seinen Kampf mit Moina als eine Art Schachspiel ansah. Obwohl Alfred de Vandenesse der unglücklichen Mutter Grauen einflößte, mußte sie die wahren Gründe ihrer Abneigung in den tiefsten Tiefen ihres Herzens verbergen. Sie war mit dem Marquis de Vandenesse, Alfreds Vater, intim befreundet gewesen, und diese Freundschaft, die in den Augen der Welt ehrbar war, hatte dem jungen Mann das Recht gegeben, bei Madame de Saint-Héreen zwanglos ein und aus zu gehen, wobei er heuchlerisch vorgab, sie schon seit ihrer Kinderzeit zu verehren. Überdies wäre es ein ganz vergeblicher Entschluß gewesen, wenn Madame d'Aiglemont zwischen ihre Tochter und Alfred de Vandenesse ein furchtbares Wort hätte werfen wollen, das sie getrennt hätte; sie war sicher, trotz der Gewalt dieses Wortes, das sie in den Augen ihrer Tochter entehrt hätte, damit keinen Erfolg zu haben. Alfred war zu verdorben und Moina zu klug, um an diese Enthüllung zu glauben; die junge Comtesse wäre ihr ausgewichen, hätte sie als mütterliche List hingestellt. Madame d'Aiglemont hatte ihren Kerker mit ihren eigenen Händen gebaut und sich selbst darin eingemauert, um hier zu sterben; während sie zusehen mußte, wie das schöne Leben Moinas, dieses Leben, das ihr Ruhm, ihr Glück und ihr Trost geworden war und an dem sie tausendmal mehr hing als an ihrem eigenen, zerstört wurde. Furchtbares, unglaubliches, unaussprechliches Leid! Bodenloser Abgrund!
Sie wartete ungeduldig, bis ihre Tochter aufstand, und trotzdem fürchtete sie sich davor; sie glich dem unseligen zum Tode Verurteilten, der mit dem Leben fertig sein will und den es trotzdem kalt überläuft, wenn er an den Henker denkt. Die Marquise war entschlossen,
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