DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
Anfangs hatte man ja um Wladimirs Leben gefürchtet: Sein Bruder Alexander war im Mai 1887 gehenkt worden. Marija Alexandrowna hätte es nicht ertragen, noch einen Sohn durch Hinrichtung zu verlieren. Doch wie würde Wolodja die Abgeschiedenheit überstehen? Ohne sie jedenfalls nicht. Ihre Koffer sind bereits gepackt, als Lenin sie quasi in letzter Minute noch von ihrem Vorhaben abbringen kann. Er verspricht ihr, bald eine seiner Getreuen zu heiraten, die sich in Sibirien um ihn kümmern kann. Leider ist noch keine Ehekandidatin in Sicht. Daher schließt die Familie einen Kompromiss: Seine Mutter und seine Schwester begleiten ihn auf halbem Weg, dann wird er seine Fahrt in die Verbannung allein fortsetzen.
Heirat auf Sibirisch
Mai 1897. Lenin ist beim Fischen, etwa einen Tagesmarsch von Schuschenskoje entfernt. Das ist fast die einzige Ablenkung, die Sibirien bietet. Als er zurückkommt, sieht er schon von Weitem, dass in seinen Räumen Licht brennt. Der Bauer, der ihn begleitet, warnt ihn: Bestimmt ist ein anderer Deportierter bei ihm eingedrungen und versucht, etwas zu stehlen. Vermutlich hat er ihm schon die Hütte ausgeräumt. Lenin beeilt sich, bereit, sich auf den Eindringling zu stürzen. Doch dann lässt ihn ein unerwarteter Anblick unvermittelt innehalten: Eine weibliche Gestalt zeichnet sich im Türrahmen ab. Sie bleibt stehen, ihr Lächeln ist nicht gerade verschämt. Es ist Nadeschda Krupskaja, auch Nadja genannt. Sie, die vor bald drei Jahren Lenins Verlobte spielen wollte, hat Apollinaria Jakubowa, die Frau, die Anna für diese Rolle vorgesehen hatte, vertrieben.
Wladimir mag in der Verbannung leben, doch will Nadja ihn trotzdem verführen. Zu sehr hat der junge Mann sie beeindruckt, mit dem sie unzählige geheime Aktionen durchführte, den sie bei nächtelangen politischen Diskussionen erleben durfte, bei denen über die Zukunft des Volkes gesprochen wurde. Dabei war es kein Leichtes gewesen, Mutter und Schwester Uljanow zu überzeugen. Nach zähen Verhandlungen beschloss Nadja, das Schicksal herauszufordern und Wolodja vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie bricht nach Sibirien auf, begleitet von ihrer Mutter. Als sie ankommt, ist sie erschöpft, aber ihrer Sache immer noch sicher. Sie hat dafür 8000 Kilometer im Zug und drei Tagesreisen mit dem Pferdeschlitten hinter sich gebracht. Aber sie hat Wladimir seit dreißig Monaten nicht gesehen, und dies erschien ihr wie die längste Zeit ihres Lebens. Das Wiedersehen verläuft verhalten: Sie sieht ihn an, er findet, sie sehe „hervorragend“ aus. Er mustert sie unbewegt und lange. In seinem Kopf läuft ab, was sie alles um seinetwillen auf sich genommen haben muss. In diesem Augenblick dämmert ihm – zum ersten Mal –, dass er seiner künftigen Frau gegenübersteht. Das traute Zusammensein der beiden wird von Nadjas alter Mutter gestört, der die Liebe nicht den klaren Blick geraubt hat: „Mein Lieber, Sie haben ja ganz schön zugenommen.“
Man spricht mit dem Besitzer der Behausung, und dieser erlaubt, dass Nadja bleibt. Die beiden Frauen werden vorläufig in dem Raum neben Lenins Zimmer schlafen. Kaum haben die beiden Damen sich von den Strapazen der Reise erholt, müssen die Hochzeitsvorbereitungen getroffen werden: Die Behörden haben Nadjas Anwesenheit nur unter der Bedingung gestattet, dass die beiden auf der Stelle heiraten. Lenin lässt sich von Nadjas Kraftakt überrumpeln und akzeptiert seinen neuen Familienstand ohne Murren.
Kurz vor der Abreise hatte Nadja noch einmal bei ihrer künftigen Schwiegermutter vorbeigeschaut. Frau Uljanow hatte sie voller Wärme empfangen. Wie es ihre Gewohnheit war, gab sie ihr alles Mögliche für Wolodja mit: Lebensmittel, Kleidung und einige Pakete. Darin befand sich unter anderem eine Auswahl seiner Bücher, die Nadja ans andere Ende Russlands schaffen sollte.
„Schick mir so viel Geld wie nur irgend möglich“, hatte Lenin in seinem letzten Brief geschrieben. Als das neue Mitglied der Uljanow-Familie sich Anna vorstellte, reagierte diese zwar freundlich, aber reserviert: Anna liebte ihren Bruder auf eine sehr besitzergreifende, eifersüchtige Weise. Sie findet, dass die Anwärterin „aussieht wie ein Hering“, was sie ihrem Bruder natürlich mitteilt. Aber der Segen Marija Alexandrownas genügt. Drei Wochen nach ihrer Ankunft in Sibirien schreibt Nadja ihrer Schwiegermutter von den „Abenteuern“ ihres neuen Lebens:
„Liebe Marija Alexandrowna,
Wolodja sitzt neben mir und debattiert
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