DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
aufs Leidenschaftlichste mit dem Müller über – ich weiß nicht welche – Kühe und Häuser, sodass ich ein wenig Zeit habe, um Ihnen zu schreiben. Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ein Tag gleicht dem anderen, und in der Außenwelt passiert rein gar nichts. Mir kommt vor, als würde ich schon eine Ewigkeit in Schuscha leben. Ich habe mich schon vollkommen eingewöhnt. Im Sommer ist es hier sehr schön. Jeden Abend gehen wir spazieren und zwar so weit wie möglich … Spazierengehen ist etwas Wunderbares. Leider hat es hier viele Mücken. Wir haben beschlossen, Netze machen zu lassen, um uns vor ihnen zu schützen. Ich weiß nicht, warum, aber sie stürzen sich alle auf Wolodja.“
Nadja ist ein Jahr älter als Lenin und ein paar Zentimeter größer. Sie kam am 5. Februar 1869 in Sankt Petersburg zur Welt. In ihrer – von einem verarmten Adelsgeschlecht abstammenden – Familie herrschte eine gewisse Aufgeschlossenheit gegenüber progressiven Ideen. Die Tochter zeigte sich äußerst wissbegierig: „Von Kindesbeinen an hörte ich von der Revolution sprechen. Kein Wunder also, dass meine Sympathie den Revolutionären galt.“ [4]
Nadja belegte bereits im Lyzeum Kurse zu pädagogischen Themen. Sie war eine begabte Lehrerin und unterrichtete mit Geduld und Ernsthaftigkeit. Da sie weder in der Stadt noch auf dem Land eine Anstellung fand, gab sie Abendkurse für Arbeiterinnen in einer Sankt Petersburger Sonntagsschule. In ihren Memoiren schreibt die junge Frau, diese fünf Jahre als Lehrerin hätten sie „für immer an die Arbeiterklasse geschmiedet.“ Ihre Schülerinnen wiesen sie auf ein verbotenes Werk hin: „Ich hörte vom ‚Kapital‘, von Ausbeutern und Ausgebeuteten […] und mein Herz schlug so laut, dass ich dachte, jeder müsse es hören.“ Bevor sie zur Marxistin wird, ist Nadja eine idealistische Romantikerin.
Das frischgebackene Ehepaar lernte sich an einem Februarabend im Jahr 1894 kennen, bei einer Versammlung junger Marxisten in der Wohnung des Sankt Petersburger Ingenieurs Klasson. An jenem Abend sollte ein vielversprechender junger Anwalt reden. Und Nadja war vom Schwung des begabten Redners sofort hingerissen.
Was mag er wohl von der zurückhaltenden Aktivistin gehalten haben, die ihm am Ende des Abends schüchtern einige Fragen stellte? Anscheinend war er nicht besonders beeindruckt. Nadja ist gebaut wie eine echte Slawin. Sie hat helle Haare und sternenklare Augen, von denen der entschlossene Mund sich deutlich abhebt. Eine Schönheit hätte man sie aber zweifelsohne nicht genannt. Als Lenin sie kennenlernt, kleidet sie sich schäbig, wie eine typische Schullehrerin eben. Jedenfalls sieht sie älter aus, als sie ist. Der Schriftsteller Ilja Ehrenburg trifft den Nagel auf den Kopf, als er die künftige Frau Wladimir Uljanows beschreibt: „Wenn man die Krupskaja so anschaut, ist einem sofort klar, dass Lenin sich nicht für Frauen interessiert.“
Nur wenige Menschen kennen die Wahrheit: Nadja leidet an einer Autoimmunkrankheit, der Basedowschen Krankheit [5] . Deren Hauptsymptome sind: Ödeme hinter den Augen, Gewichtsprobleme, psychische Störungen. Fotografiert zu werden mag sie nicht, daher sind von ihr nur wenige Bilder überliefert.
Das Exil ist für Nadja eine Atempause, während der ihre Krankheit sich deutlich weniger bemerkbar macht. Hier gehört Wolodja nur ihr: „Wie man es auch wenden mag, wir leben hier wie in den Ferien.“ Für sie ist die Zeit in Sibirien wie Flitterwochen, wie eine Sommerfrische auf dem Land. Im folgenden Jahr schreibt sie an Marija Alexandrowna:
„Der Frühling liegt in der Luft. Der zugefrorene Fluss bedeckt sich allmählich wieder mit Wasser. In den Weiden führen die Spatzen einen Höllenlärm auf, die Ochsen ziehen laut schreiend durch die Straßen und die Henne unter dem Ofen der Hausbesitzerin macht jeden Morgen einen solchen Krach, dass sie das ganze Haus aufweckt. Die Wege sind schlammig. Wolodja redet wieder öfter von seinen Jagdstiefeln und seinem Gewehr. Mama und ich überlegen schon, welche Blumen wir pflanzen könnten.“
Die Hüterin der sibirischen Klause vermeldet nur Schönes und Fröhliches. Abends zum Beispiel singt man mit den Bauern:
„Wladimir liebte unsere gesanglichen Vergnügungen, ja er legte einen geradezu außergewöhnlichen Eifer an den Tag: Sobald wir anfingen, unser Repertoire zu wiederholen, packte es ihn. Dann befahl er mit sonorer Stimme: ‚Wir singen nun: ‚Mut, Kameraden, im
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