DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
Stalin geht am 8. November 1932 im Kreml auf. An jenem Abend findet ein Fest zum fünfzehnten Jahrestag der Revolution statt. Der Empfang wird von Verteidigungsminister Woroschilow im sogenannten „Kavaliersflügel“, einem lang gestreckten Gebäude, ausgerichtet. Das Fest, bei dem keiner der staatlichen Würdenträger fehlt, findet jedes Jahr statt. Dort wird gesungen und getanzt, wie die Kaukasier es nun einmal gerne tun. Sicher stimmt auch Stalin ein Liedchen an.
Der Führer bringt einen Toast auf die Beseitigung der „Feinde im Innern“ aus. Er merkt, dass Nadja nicht mittrinkt. „Warum trinkst du nicht?“, brüllt er sie an. Dabei weiß er doch, dass sie keinen Alkohol anrührt. Er weiß auch, dass sie und Bucharin, der neben ihr sitzt, ihm die Hungersnot in der Ukraine zum Vorwurf machen. Was hecken die beiden da aus? Er provoziert sie. Sie antwortet nicht. Er bewirft sie mit Orangenschalen und Zigarettenkippen. Das ist dann doch zu viel! „He, du, trink!“, schreit er. Sie erhebt sich: „Ich heiße nicht ‚He, du‘!“ Wutentbrannt verlässt sie den Raum. Stalin schickt ihr wüste Beschimpfungen nach. „Sei endlich still!“, schreit sie zurück. Er schüttelt den Kopf. „Was für eine blöde Kuh“, murmelt er hinterdrein. „Ich würde nicht zulassen, dass meine Frau so mit mir redet“, meint Budjenny, einer der Gäste.
Jemand muss Nadja in der Dunkelheit begleiten. Polina, Molotows Frau und eine von Nadjas besten Freundinnen, kommt mit ihr. Sie gehen am Kremlpalast entlang. „Immer meckert er. Und warum muss er dauernd herumflirten?“ [18] Mit wem hat Stalin an jenem Abend und vor den Augen aller Funktionäre geflirtet? Wollte er Nadja etwa eifersüchtig machen, weil sie sich hauptsächlich mit Bucharin unterhalten hat?
Die Übeltäterin ist die Frau von Alexander Egorow, eines Kommandanten der Roten Armee. Stalin tanzt an jenem Abend leidenschaftlich mit ihr, flüstert ihr ins Ohr. Dann setzt er sich direkt vor Nadja hin und drängt sich an Galia Egorowna, eine Schauspielerin, die allerdings eher für ihre extravagante Kleidung und ihre Affären bekannt ist. Stalins Verführungstaktiken sind, wenn er getrunken hat, recht infantil, ja fast schon dümmlich: Er versucht Galia zu erobern, indem er sie mit Brotkrümeln bewirft. Nadja glüht vor Zorn. „Er war betrunken und hat sich eben danebenbenommen“, versucht Polina sie zu beruhigen.
Wie kann der Führer der Bolschewiken sich nur von angemalten Gänsen wie der beeindrucken lassen! Tänzerinnen, Friseusen, Schauspielerinnen … Nadja ist stolz, ihre natürliche Würde bewahrt zu haben. Sie lehnt solchen Putz strikt ab: Sie trägt zweckmäßige, gerade geschnittene Kleider, einfache Wolltücher, Mieder mit geschlossenem Kragen und kein Make-up … Nur diesen Abend hat sie eine Ausnahme gemacht. Gerade heute hatte sie anders sein wollen. Sie hatte ein schwarzes, mit roten Rosen besticktes Kleid angezogen, das sie aus Berlin hatte kommen lassen. Einmal hat sie ihr schwarzes Haar nicht zum Knoten im Nacken gebunden, sondern kunstvoll aufgesteckt und mit einer Teerose geschmückt. Stalin aber bemerkt es nicht einmal.
Die beiden Frauen spazieren gemeinsam zum Kreml-Palast zurück. Sie reden fast die ganze Nacht. „Sie hat sich am Ende doch beruhigt“, erzählt Polina von jenem Abend. Sie hätten über die Akademie gesprochen und über die Frage, ob Nadja wohl Arbeit finden könne. Am frühen Morgen lässt sie Nadja vor dem Potechny-Palais zurück. Sie muss die Allee durchqueren, um ihre Wohnung im Kavaliersflügel zu erreichen.
Nadja geht schnurstracks in Stalins Büro. Leer. Offensichtlich ist er nicht nach Hause gekommen. Mikojan, Kommissar für die Nahrungsmittelindustrie, schildert die folgenden Ereignisse wie folgt: Nadja ruft in einer der Datschas an, die zum Kreml gehören. Eine Wache antwortet ihr.
„Ist Stalin da?“
„Ja.“
„Mit wem?“
„Mit der Frau von Gussew.“
Stalins Leibwache Wlassik bestätigte gegenüber Chruschtschow, dass Stalin das Diner bei Woroschilow mit einer Frau verlassen und sich in eine seiner Datschas begeben habe.
Nadja reißt sich die Rose aus dem Haar und schleudert sie in die Ecke. Sie tritt in ihr Zimmer, findet auf ihrem Bett ihre Lieblings-Wolltücher und nimmt jenes, das am besten zu ihrem Kleid passt. Dann betrachtet sie durch das Fenster die Rosen im Alexanderpark.
Ihr Bruder Pawel hat ihr – zusammen mit dem Kleid – eine Pistole geschickt, eine Mauser in einem Lederetui.
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