DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
vor ihrer Fakultät absetzen, damit ihre Mitstudenten glauben, sie sei mit dem Bus gekommen. Und sie verheimlicht noch mehr: Sie erzählt keinem, dass sie Stalins Frau ist. Wie ihre Mutter einst, so will auch Nadja ihr eigenes Leben führen. Als sie dreiundzwanzig ist, lässt sie den Haushalt Haushalt sein und nimmt eine Stelle bei der Zeitschrift Revolution und Kultur an. Trotz ihrer geringen Schulbildung legt sie in der Redaktion bald erstaunliche Fähigkeiten an den Tag. Sie scheint jede Gelegenheit zu ergreifen, die sie vom Kreml, von Stalin und den Kindern wegführt. Vor allem die gemeinsamen Mahlzeiten hasst sie, bei denen sie das inquisitorische Auge ihres Iossif auf sich ruhen fühlt. Boris Baschanow vermerkt in seinem Tagebuch:
„Im Familienkreis war Stalin ein absoluter Despot. […] Er schwieg meist und ignorierte alle Fragen seiner Frau oder seines Sohnes. Wenn er erschöpft war, was nicht selten der Fall war, sagte er das ganze Abendessen über kein Wort und erwartete, dass auch alle anderen still blieben.“
Gleich nach der Geburt der beiden eigenen Kinder adoptiert das Paar Jakow, den ersten Sohn von Stalin und Kato, sowie Artyom, den Sohn eines Jugendfreundes von Stalin. Nadja zieht die älteren Kinder ihren eigenen vor, sind sie doch leichter zu erziehen als ihre Kleinen. Mit Wassili und Swetlana ist sie sehr streng. Stalin hingegen ist zwar streng zu seinen Mitarbeitern, doch seinen Kindern lässt er alles durchgehen. Was Kindererziehung angeht, sind Nadja und Iossif fast ständig verschiedener Ansicht.
Stalin ist geprägt von der Erziehung in Georgien, wo man die Kinder auf das harte Leben im Kaukasus vorbereiten will. So wird Bucharin eines Tages völlig entsetzt Zeuge der folgenden Szene: „Wissen Sie, was er getan hat? Er sog an seiner Pfeife, füllte seinen Mund mit Rauch, dann nahm er seinen einjährigen Sohn aus dem Kinderwagen und blies ihm ins Gesicht. Das Kind wehrte sich und weinte. Doch Koba lachte nur und meinte: ‚Was soll’s, es ist gut für ihn, dadurch wird er nur stärker.‘ Ich wandte ein, dass dies barbarisch sei. ‚Da kennst du Koba schlecht‘, antwortete Stalin feixend. Er sprach gern von sich in der dritten Person.“
Eine andere kaukasische Tradition ist es, Kinder Wein von den Fingern der Erwachsenen lecken zu lassen. Wenn sie ein wenig größer waren, bekamen sie sogar hin und wieder ein Gläschen. Und so verabreichte Stalin Wassili immer wieder mal ein Schlückchen Wein, weil er befand, dass dies gut für ihn sei. Doch das trieb Nadja auf die Palme. Dies war einer der Punkte, über die sie ständig stritten. Doch Stalin gluckste nur fröhlich: „Das ist Medizin, weißt du.“ Sein Sohn sollte später an Alkoholismus sterben.
Die häuslichen Spannungen setzen Nadjas Nerven zu. Allmählich zeigt sie erste Anzeichen von Nervenschwäche. Immer öfter kommt es zu Streitigkeiten.
Stalin macht sich Sorgen. Schließlich wird Nadjas Mutter von den Kremlärzten seit einiger Zeit wegen Schizophrenie behandelt. Taktvoll und zartfühlend wie immer lässt er keine Gelegenheit verstreichen, um seine Frau anzubrüllen: „Du bist ja nur eine Schizophrene, eine Hysterikerin!“ Doch sie zahlt es ihm mit gleicher Münze heim: „Und du, du leidest unter Verfolgungswahn. Weil du überall Feinde hast.“
Iossif spricht immer mehr dem Alkohol zu. Nächtelang zecht er mit den Genossen. Er verträgt ja auch Unmengen. Nadja hingegen trinkt nicht einen Tropfen. Doch sie sieht über Stalins Alkoholkonsum hinweg … Mit seinen Lügen und Betrügereien ist das etwas anderes. Denn Lügen sind im Kreml Nadjas täglich Brot.
Stalin hat mehrere Affären, unter anderem mit der Hoffriseuse des Kremls und einer der Bediensteten in der Datscha. Auch sie hat eine kleine Stupsnase, wie er sie liebt. Nadja ist halb wahnsinnig vor Eifersucht. Im Kreml zirkuliert noch ein ganz anderes Gerücht: Der „Woschd“ soll die sechzehnjährige Tochter von Lazar Kaganowitsch geschwängert haben.
Swetlana glaubt, dass dies das Ende der körperlichen Beziehungen zwischen ihren Eltern war. Von nun an hat Nadja ihr eigenes Zimmer, während Stalin in seinem Büro schläft oder in dem kleinen Raum neben dem Esszimmer, in dem er auch einen Telefonanschluss hat.
1926 hat die erschöpfte und enttäuschte Nadja genug von diesem Dasein. Das Leben als erste Genossin im Staat kostet sie zu viel Kraft. Sie verlässt mit ihren beiden Kindern den Kreml und geht nach Sankt Petersburg. Dort will sie sich ein neues Leben
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