DIE FRAUEN DER DIKTATOREN
aufbauen. Aber Stalin ist kein Mann, den man einfach verlässt. Er ruft ununterbrochen an und befiehlt ihr, zurückzukommen. Er droht ihr sogar: Sie werde ihm nie entkommen, wohin sie auch fliehen möge. Sie leistet dem Befehl Folge. Nichts hat sich geändert, als sie wieder im Kreml ist. Die täglichen Auseinandersetzungen quälen sie. Kurz denkt sie darüber nach, alles hinzuwerfen und in die Ukraine zu gehen. Nadja versteht nicht, wieso Stalin so rücksichtslos gegen bolschewistische Genossen wie Trotzki, Sinowjew und Kamenew vorgeht, die Mitte der Zwanzigerjahre alle eliminiert werden. Wozu diese ganze Gewalt? Stalins gnadenlose Ausschaltung aller politischen Gegner ist Nadjas erste Begegnung mit der nackten Realität der Macht. Stalin bringt keinem seiner Genossen auch nur einen Funken von Vertrauen entgegen. Nadja wird allmählich bewusst, dass dies in ihrer Beziehung nicht anders ist.
1927 ist ein besonders schweres Jahr für sie. Der Diplomat A. A. Joffe, ein allgemein bekannter Trotzkist, wird in den Selbstmord getrieben, was Nadja zutiefst erschüttert. Sie nimmt an seiner Beerdigung teil – inmitten der Veteranen der Roten Armee, die laut den Namen Trotzki skandieren. Eine verwunderliche Annäherung an Iossifs Feinde für diese Frau, die zwischen der Treue zu ihren Idealen und der zu ihrem Ehemann hin und her gerissen wird. Da Nadja diesen gordischen Knoten nicht zu lösen vermag, wendet sie sich neuen Horizonten zu: der Religion. Sie findet zurück zum verschütteten Glauben ihrer Kindertage. Ihre neu gewonnene Frömmigkeit schenkt ihr eine Gelassenheit, die sie bislang nicht kannte. Endlich findet ihre gequälte Seele ein wenig Hoffnung. Hier sind weder ihr Mann noch seine Macht von Bedeutung. Oder ist ihr Glaube gar als Provokation gegen Stalin gedacht, der alle Formen der Religiosität hasst? Der Glaube schenkt ihrer Seele Frieden, doch die verlorenen Jahre kann er nicht zurückbringen. Galina Krawtschenko, eine Genossin, die sie an der Universität kennenlernt, erinnert sich:
„Nadja sah älter aus, als sie war. Man hätte sie leicht auf vierzig schätzen können. Sie war eine junge Frau, die mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet war, und die beiden wirkten, als wären sie gleich alt. Sie war tief religiös und ging regelmäßig zur Kirche. Das wusste jeder. Denn sie konnte Dinge tun, die anderen Parteimitgliedern verboten waren.“ [17] Eine Kränkung des Führers, über die im Kreml bald hämische Bemerkungen gemacht wurden. Die Frau Stalins soll eine Frömmlerin sein! „Man konnte sehen, dass sie ein wenig verrückt war“, schließt Krawtschenko.
Auch Nadjas körperlicher Zustand verschlechtert sich zusehends. Sie leidet unter so heftigen Migräneanfällen, dass man sie nach Karlsbad in Böhmen schickt, wo sie eine Kur machen soll. Auf dem Weg dorthin besucht sie ihren Bruder Pawel in Berlin. Auch für ihre Unterleibskrämpfe findet sich keine Erklärung. Möglicherweise rühren sie von einer Abtreibung, die sie 1927 aus nicht näher bekannten Gründen vornehmen ließ. Immerhin war ein solcher Eingriff damals relativ riskant. Offensichtlich jedoch hat er die junge Frau viel gekostet. Vermutlich wollte Nadja im Kreml nicht noch ein Kind aufziehen.
Bald darauf kam es zur schrecklichen Zwangskollektivierung der landwirtschaftlichen Güter der Sowjetunion, die Stalin Anfang der Dreißigerjahre für den Staat fordert. Am Ende seines Lebens wird er eingestehen, dass er für seine Frau nicht genug Zeit hatte: „Auf mir lastete ein unmenschlicher Druck. Überall lauerten Feinde. Wir mussten Tag und Nacht arbeiten …“
Das Übel lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Nadja zieht sich immer weiter aus ihrem Familienleben, ja aus dem Leben überhaupt zurück. Das Leben erscheint der Neunundzwanzigjährigen inhaltsleer. Ihre Schwester Anna hat einen Angehörigen der Geheimpolizei geheiratet, der zum Versorgungs-Kommissar ernannt und in dieser Funktion von Stalin in die Ukraine versetzt wurde. Dort war er für die Kollektivierung der landwirtschaftlichen Betriebe zuständig. Er ist es, der Nadja von der staatlich inszenierten Hungersnot berichtet, die Millionen von Menschen das Leben kostet. Erst da merkt sie, welche Auswirkungen die von ihrem Mann angeordnete Zwangskollektivierung hat. Dies ist der Gnadenstoß für ihre illusionären Ideen. Anna und ihr Mann werden deportiert, weil sie Nadja die Wahrheit gesagt haben.
Der letzte Tanz
Der Vorhang zur letzten Szene zwischen Nadja und
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