Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
schon verstehen.»
Anna nickte. Konzentriert. Sebastian stand auf und ging auf sie zu.
«Besuch jemanden. Leben deine Eltern noch?»
«Ja, meine Mutter.»
«Dann fahr zu ihr.»
«Ich weiß nicht …» Anna ließ das Ende des Satzes in der Luft schweben, während sie überlegte. Im Gegensatz zu vorher arbeitete ihr Gehirn jetzt auf Hochtouren. Die Gedanken, die noch vor wenigen Minuten in einem unaufhaltsamen Wirbel vor ihr davongelaufen waren, erschienen ihr inzwischen klar und deutlich. Sie wusste nun, welche sie verwerfen und mit welchen sie weiterarbeiten konnte.
«Wäre es denn so merkwürdig, wenn du sie mal eine Woche besuchen würdest?», fragte Sebastian, dem daran lag, eine definitive Entscheidung zu hören, bevor er Anna verließ.
«Von einem Tag auf den anderen? Ja, das wäre schon merkwürdig. Wir haben keine so enge Beziehung.»
Doch trotz ihrer entschiedenen Antwort hatte Anna bereits begonnen, ein mögliches Szenario zu entwerfen. Einen Gedanken, den sie packen und in rasender Geschwindigkeit weiterentwickeln konnte.
Ihre Mutter könnte angerufen haben, als Valdemar unterwegs war. Am heutigen Abend. Sie gebeten haben, zu ihr zu kommen. Weil sie sich kränklich fühlte oder weil irgendetwas mit dem Haus nicht in Ordnung war. Auf jeden Fall, weil sie Hilfe brauchte. Valdemar würde es glauben. Und dann konnte sie fahren. Sie würde ihrer Mutter eine erfundene Geschichte erzählen, warum sie kam. Zu viel Arbeit. Kurz vorm Burnout. Sie müsse einfach mal raus. Wenn Valdemar anrief, sollte Mama doch bitte so lieb sein und sagen, dass sie Annas Hilfe bräuchte. Sie wollte ihn nicht beunruhigen. Nicht so kurz nach seiner Krebserkrankung. Ihre Mutter würde mitspielen. Ihr zuliebe lügen. Anna würde eine Weile dort wohnen. Zurückkommen, wenn der Mörder gefasst war. Ihrer Mutter erzählen, dass es ihr jetzt viel besser ging. Und würde das Thema bei irgendeinem Familienfest oder Feiertag auf den Tisch kommen, würde sie darüber lachen und behaupten, ihre Mutter hätte da etwas missverstanden. Niemand würde genauer nachfragen. Es könnte funktionieren. Es musste funktionieren.
«Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben», mahnte Sebastian. «Wenn dir etwas passieren würde, wenn jemand dich fände … Dann würde Vanja alles erfahren. Auf die schlimmste nur denkbare Weise.»
«Ich weiß, aber heute Abend kann ich noch nicht fahren.»
«Warum nicht?»
Weil das nicht zu ihrem Plan passte. Ihre Abreise durfte nicht zu abrupt wirken. Sonst würde Valdemar darauf bestehen, mitzufahren. Sie begleiten wollen. Sie konnte nicht vor morgen fahren. Auch das war noch ausgesprochen kurzfristig, aber es würde funktionieren.
«Es geht einfach nicht», antwortete sie Sebastian. Sie hatte weder Lust noch Muße, ihm ihren Plan zu erklären. «Aber das ist nicht schlimm. Valdemar kommt bald nach Hause.»
«Ich kann im Treppenhaus warten, bis er kommt», bot Sebastian an.
«Nein! Du sollst gehen. Jetzt. Sofort.» Anna spürte, wie sie nach ihrem ersten Schock die Kontrolle wiedererlangte. Sie würde das schon hinbekommen, genau wie sie alle anderen Probleme über die Jahre hinweg gelöst hatte. Aber Sebastian musste weg. Sie packte ihn und zog ihn vom Sofa. Jetzt war sie wieder voller Energie. Es gab so viel zu tun, und es durfte keine Verwirrungen geben. Schließlich war es enorm wichtig, dass alles gut würde. Wichtig für alle.
Sebastian begriff, dass er nicht mehr tun konnte. Er nickte und trat in den Flur.
«Du darfst außer Valdemar niemandem die Tür aufmachen.»
«Er hat einen Schlüssel.»
Als sich Sebastian kurz umwandte und Anna mitten in ihrem Wohnzimmer stehen sah, tief in Gedanken versunken, begriff er, was er gerade in ihr ausgelöst haben musste. Erst vor wenigen Monaten hatte man ihren Mann für geheilt erklärt. Wie lange hatte sie mit der Bedrohung gelebt, dass ihr Lebensgefährte an Krebs sterben könnte? Monate? Jahre? Und jetzt kam er mit einer neuen Bedrohung. Ließ den Tod erneut in diese schöne Wohnung Einzug halten.
«Es tut mir leid.»
Das waren Worte, die er nur selten gebrauchte, aber diesmal waren sie ehrlich gemeint. Sebastian beugte sich hinab und begann, seine Schuhe anzuziehen. Anna trat in den Flur, als wollte sie kontrollieren, ob er auch wirklich aufbrach. Sebastian richtete sich auf, hielt jedoch mit der Hand auf dem Türgriff inne. Er wollte es wirklich wissen, und nahm dabei in Kauf, dass er sich noch unbeliebter machte, als er es ohnehin schon war, sich noch
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