Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
ob seine Augen geöffnet oder geschlossen waren. Für einen kurzen Moment glaubte er, einen Streifen Licht am oberen Ende der Treppe zu sehen und Schatten, die durch das Licht glitten, um im nächsten Moment von der Dunkelheit verschluckt zu werden. Aber er war sich nicht sicher. Das Bild der grellen Glühlampe lag noch immer auf seiner Netzhaut, es verzerrte und verwirrte. Er blinzelte einige Male. Nur Dunkelheit. Aber er hörte Schritte auf der Treppe, dessen war er sich sicher. Schritte, und schweres, erwartungsvolles Atmen.
«Opa …», rief er.
Doch niemand antwortete.
Auf der Fahrt nach Hause war Lennart wie immer. Entschuldigte sich dafür, ihn erschreckt zu haben. Es sei nur ein Spiel gewesen. Und ein großer Junge wie er könne doch wohl ein kleines Spiel verkraften? Es sei doch nichts passiert, oder?
Er schüttelte den Kopf. Aber er hatte sich gefürchtet. Vor den Geräuschen. Vor der Dunkelheit und außerdem … Er wusste nicht, wie lange er so in der Dunkelheit gestanden hatte, aber als Lennart das Licht wieder angeknipst hatte, war der Raum leer gewesen. Keine Spur von anderen Menschen.
Eigentlich wollte er sagen, dass er das Spiel nicht gemocht hatte. Überhaupt nicht gemocht. Aber er blieb stumm. Eigentlich war ja wirklich nichts passiert. Und im Tageslicht, im Auto, war er sich damals nicht mal sicher gewesen, ob tatsächlich noch jemand anders dort gewesen war. Vielleicht hatte er einfach nur Angst bekommen. Sich deshalb Dinge eingebildet. Er wagte es nicht, Lennart danach zu fragen. Sie hielten vor dem McDonald’s an und holten Eis. Anschließend kauften sie ihm ein neues Videospiel. Als er nach Hause kam, war alles fast wie immer. Er hatte sich gefürchtet, aber die Erinnerung verblasste. Es kam ihm mehr und mehr vor wie ein Traum. Als wäre im wirklichen Leben nie etwas passiert. Aus seinen Jahren mit Mama war er es gewohnt, sich schnell an neue Situationen anzupassen. Neue Gemütslagen. Versprechen, die gebrochen wurden, Voraussetzungen, die sich plötzlich änderten. Er war ein Meister darin geworden, zu vergessen und zu verdrängen. Genau das konnte er auch jetzt tun.
Lennart und er unternahmen weiterhin Ausflüge. Zunächst hatte er gezögert. Hatte nicht mitkommen wollen, aber dann war alles so wie früher. Sie unternahmen lustige Dinge. Schöne Dinge. Die Erinnerung verschwand immer mehr. Irgendwann konnte er sich kaum noch daran erinnern.
Bis sie eines Tages wieder an dem Sommerhaus ankamen.
Monate später. Widerstrebend ging er mit Lennart zu dem braunen Haus auf der Lichtung. Lennart hielt ihn an der Hand. Schleifte ihn mehr oder weniger dorthin. Schwere Beine. Atemnot. Wieder in den Flur hinein. In die spezielle Stille, die nur dann entstand, wenn mehrere Personen versuchen, keine Geräusche zu machen. Er hatte das Gefühl, ihre Anwesenheit in dem Raum, den er nicht sah, spüren zu können. Wie sie warteten. Dann die Treppe hinab. Die nackte Glühbirne. Lennart am Lichtschalter. Die Dunkelheit. Die hastigen, leisen Schritte über ihm. Diesmal blickte er nicht in die Glühbirne, ehe sie erlosch, und konnte deshalb mehr erkennen in dem schwachen Licht, das hereinsickerte, als die Kellertür geöffnet wurde. Es waren die Silhouetten von Menschen. Nackt. Mit Tiermasken. Er konnte deutlich einen Fuchs und einen Tiger erkennen. Wirklich? Er war sich nicht sicher. Es ging so schnell. Er hatte Angst. Die Tür war nur für wenige Sekunden geöffnet gewesen. Dann Dunkelheit.
Das Huschen.
Das Atmen.
«Wer sind die?», fragte er auf der Heimfahrt leise.
«Wen meinst du?», fragte Lennart zurück.
«Die mit den Masken», erklärte er.
«Ich weiß nicht, wovon du redest», hatte die Antwort gelautet.
Nach dem zweiten Mal wollte er keine Ausflüge mehr mit Lennart unternehmen. Nie wieder. Er sprach mit Papa darüber. Ohne zu sagen, warum. Konnte er nicht einfach dableiben? Papa wollte so etwas nicht hören. Es war wichtig, dass sie sich mit der neuen Familie gut verstanden. Lennart hatte schließlich nur ihn als Enkelkind. Natürlich wollte er ihn sehen. Er sollte froh sein, einen Ersatzopa zu haben, der sich so viel mit ihm beschäftigte. Der so viel Zeit und Geld investierte. Froh und dankbar.
Er versuchte dennoch zu erklären, dass er wirklich nicht wollte, und bekam zu hören, das spiele keine Rolle. Er musste. Ende der Diskussion. Eigentlich war er nicht verwundert. Nicht einmal traurig. Er hätte es wissen müssen. Es war genau wie damals mit Mama. Seine Gefühle zählten
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