Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
angesehen wurde, so sehr hatte ihn trotzdem den ganzen Abend über sein schlechtes Gewissen geplagt.
«Wo suchst du?»
«Warum?» Vanja sah vom Bildschirm auf und blickte ihn an, zum ersten Mal, seit er gekommen war. «Willst du mir helfen?»
Billy zögerte kurz. Dies war eine neue Situation. Vanja bat ihn nicht einfach nur um einen Gefallen, sondern fragte, ob er ihr helfen wolle. Weil sie wusste, dass ihm solche Tätigkeiten Spaß machten? Weil sie zusammenarbeiten mussten? Oder weil sie ihn nach seinem gestrigen Verhalten testen wollte? Vorsicht ist besser als Nachsicht, dachte Billy und antwortete mit einer Gegenfrage: «Brauchst du denn Hilfe?»
«Nein.»
Vanja wandte sich wieder dem Bildschirm zu und klapperte auf der Tastatur herum.
Billy blieb ein wenig ratlos stehen. Sie war sauer, daran bestand kein Zweifel. Wahrscheinlich auf ihn. Nicht ganz zu unrecht. Sollte er es einfach ignorieren? Hoffen, dass ihre Wut verfliegen würde, was bestimmt irgendwann der Fall wäre. Er ermahnte sich dazu, Vanja heute besonders zuvorkommend zu behandeln. Es gefiel ihm nicht, mit ihr im Clinch zu liegen.
«Möchtest du auch einen Kaffee?» Ein kleines Wölkchen aus der Friedenspfeife konnte wohl nicht schaden.
«Ich hab schon, danke.»
Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung ihrer fast vollen Cappuccino-Tasse. Billy nickte vor sich hin. Das hätte er gleich sehen müssen. Ein Friedensangebot hatte er aber noch. Eine ausgestreckte Hand, die sie garantiert nicht ausschlagen konnte.
«Sie heißt My.»
«Wer?»
«Na, die Frau. Die Theaterfrau … meine Freundin.»
Vanja sah auf, als warte sie auf eine Fortsetzung, aber Billy hatte keine. Er hatte mit einer ganzen Batterie neugieriger Fragen gerechnet und schon im Voraus beschlossen, sie alle zu beantworten, außer wenn Vanja nach Mys Beruf fragte. Nach dem gestrigen Telefonat würde Vanja sofort zwei und zwei zusammenzählen, und dann wäre My untendurch. Unwiderruflich und auf ewige Zeiten. Das wollte er auch nicht. Verdammter Mist, wie kompliziert doch alles mit einem Mal geworden war. Vanja sah ihn weiterhin auffordernd an. Nun kam er sich ziemlich dumm vor. Als hätte er das nur gesagt, um vor ihr zu prahlen.
«Tja also, ich dachte nur, falls es dich interessiert …»
«Okay.» Vanja vertiefte sich wieder in ihre Recherchen. Nicht an seiner Freundin interessiert. Also war sie richtig geladen. Vielleicht sogar nicht nur seinetwegen, sondern auch wegen anderer Dinge.
«Na dann … Ich gehe mal eben duschen.»
«Okay.»
Billy blieb noch einen Moment stehen, dann verließ er das Büro.
Es würde ein harter Tag werden.
E dward saß in der Bibliothek.
Für eine kleinere Haftanstalt hatte Lövhaga eine ziemlich große Bibliothek. Dafür gab es vermutlich viele Gründe. Die lange Haftzeit der Insassen. Ihre schrecklichen Verbrechen. Die Idee, die intellektuelle Entwicklung der Häftlinge zu fördern und sie daran wachsen zu lassen. Der Glaube, dass Bücher und Wissen bessere Menschen aus ihnen machen würde. Und nicht zuletzt das, was hinter fast allen menschlichen Ideen steckte: Eigeninteresse. Je besser die Bibliothek war, die eine Gefängnisleitung vorzeigen konnte, je mehr Insassen dort regelmäßig saßen und sich vervollkommneten, desto besser wurde die Haftanstalt in den internen Berichten bewertet. Die Logik war banal: Eine feine Bibliothek war mit einer fachkundigen und aktiven Leitung gleichzusetzen.
Hinde hatte das Resultat einer solchen Überlegung selbst erlebt, und zwar nach dem Krawall ums Putzen. Wenige Monate später wurde die Bibliothek bedeutend ausgebaut und um eine höhergelegene Abteilung mit dem Schwerpunkt Geisteswissenschaften erweitert. Als ob man Auseinandersetzungen zwischen Exjugoslawen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, die wegen wiederholter Gewalttaten einsaßen, durch Die Geschichte der Renaissance in zwölf Bänden oder Schriften über Philosophie und Ideengeschichte verhindern könnte.
Das Angebot der Bibliothek bestand aus Sachbüchern und Romanen, aber man musste genau suchen, um eine Perle zu finden. Das hatte Edward einiges an Zeit gekostet, aber jetzt saß er wie gewohnt in der oberen Abteilung und las eines seiner Lieblingsbücher. Es behandelte in allen Details Napoleons Überquerung der italienischen Alpen im Jahr 1797. Damals war dieser gerade zum General befördert und in aller Hast ausgesandt worden, um die französischen Verbündeten in Italien gegen die habsburgischen Truppen zu verteidigen. Bei
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