Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
diesen ehrenvollen Schlachten stellte er seine strategische Begabung unter Beweis, die ihn bis ins Zentrum der Geschichte führen sollte. Edward hatte das Buch schon oft gelesen, nicht so sehr wegen der Beschreibungen von Schlachten, Scharmützeln, der Versorgungsproblematik oder der Realpolitik. Nein, im Buch gab es ein Kapitel, das Napoleons Persönlichkeit analysierte und vor allem seine Beziehung zur Mutter, Letizia Buonaparte, behandelte.
Eine starke Mutter.
Eine dominante Mutter.
Hinde war der Meinung, in diesem Kapitel das Geheimnis von Napoleon gefunden zu haben. Er sah den kleinen Jungen vor sich, der so vieles nur aus einem einzigen Grund wollte: wegen Letizia. Offenbar war sie eine Frau gewesen, die zum Kampf einlud.
Edward ließ Letizia für einen Moment ruhen und sah sich um. Er wusste, dass es jetzt zwei oder drei Minuten nach zwölf war und in der Bibliothek bald ein Personalwechsel stattfinden würde. Der Wärter in der oberen Etage ging zu der kleinen Rezeption hinunter, die direkt neben dem Eingang des Untergeschosses lag, und würde die Bibliothek gemeinsam mit seinem Kollegen verlassen, sobald die Ablösung kam. Diese war zunächst allein und blieb daher im größeren und besser besuchten unteren Teil der Bibliothek. Wenn der zweite Bibliotheksaufseher zehn Minuten später ankam, ging einer von beiden in die obere Etage.
Hinde legte das Buch beiseite und rutschte vorsichtig mit dem Stuhl näher an das Geländer, um einen guten Blick auf das Geschehen unten zu haben.
Wie so oft hatte Hinde das Obergeschoss für sich allein. Die anderen Insassen gingen nicht nach oben, jedenfalls nicht, wenn Edward sich dort aufhielt. Gehorsam blieben sie in der unteren Etage. Das hatte sich schon lange durchgesetzt. Fast schien es, als hätte die Gefängnisleitung nur für eine einzige Person Millionen von Kronen ausgegeben und eine zweite Etage gebaut.
Ein erhabenes Gefühl.
Nach der pompösen Einweihung hatte es allerdings einige Wochen gedauert, bis die ungeschriebene Regel von allen befolgt wurde. Zu dieser Zeit hatte Edward stets Hilfe von seinem großgewachsenen Freund Roland Johansson gehabt, den er nun sehr vermisste. Roland hatte ein einzigartiges Talent, andere zu überzeugen. Er kannte keine Furcht und ließ sich nie von Banalitäten wie Empathie oder Barmherzigkeit beirren. Dennoch zeigte er Edward gegenüber die uneingeschränkte Loyalität eines treuen Soldaten und hatte stets stumm an seiner Seite gestanden. Roland redete nicht viel, aber Hinde hatte behutsam das Gespräch mit ihm gesucht und einen Zugang zu ihm gefunden, der über seine Kindheit und eine Reihe von Enttäuschungen führte, die seinen Charakter geformt hatten. Alkoholikereltern. Ein Kinderheim nach dem anderen. Unstetigkeit und Unsicherheit. Frühe Straftaten und Drogen. Die übliche Leier, die auf neunzig Prozent derer zutraf, mit denen er hier höchst unfreiwillig zusammenwohnte. Im Unterschied zu den anderen war Roland jedoch intelligent. Unglaublich intelligent. Hinde hatte das früh geahnt und mit Hilfe eines Buchs aus der Bibliothek einen Test mit ihm durchgeführt. Auf der Stanford-Binet-Skala erreichte Roland einen Wert von 172. Nur 0,0001 Prozent der Bevölkerung übertraf die 176. Hinde hatte zur Sicherheit mit der Wechsler-Skala einen zweiten Test gemacht und ungefähr dasselbe Ergebnis ermittelt. Roland Johansson war einzigartig, und für Edward war er ein Geschenk des Himmels. Ein vernachlässigter, hyperintelligenter Junge, den sein schwieriges Leben und seine Enttäuschungen stahlhart gemacht hatten. Er war jemand, der nie als das gesehen wurde, was er in seinem tiefsten Inneren war. Bis er Edward traf. Die chemische Stimulanz seiner Drogen wurde durch mentale Stimulanz ersetzt, und Edward hatte ihn auf seine weitere Rolle vorbereitet.
Nach seiner Entlassung hatte Roland sich eine Weile unauffällig verhalten. Keine Verbrechen, keine Drogen. Er hatte auf das Signal gewartet. Edwards Behandlung war effektiver gewesen als zwanzig Jahre wohlgemeinter Bemühungen der schwedischen Gesellschaft. Er verhalf Roland zu einer neuen Identität und einem Glauben an sich selbst. Das übertraf alle Bücher auf der ganzen Welt, ganz gleich, in wie vielen Bänden sie herausgegeben wurden. Edward war froh, eine so loyale Arbeitskraft außerhalb der Gefängnismauern zu haben, aber gleichzeitig vermisste er ihn auch. Teils, weil ihm die Freundschaft wichtig geworden war, und teils, weil seine Machtposition in Lövhaga ohne
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