Die Frauen von Clare Valley
nicht einfach packen und ihm um die halbe Welt folgen. Natürlich nicht.
Sie hielten sich noch immer an den Händen. »Wirst du mir schreiben?«
»Aber sicher.«
»Wirst du lange bleiben?«
»Ich habe versprochen, dass ich ein halbes Jahr bleibe. Allerhöchstens ein Jahr.«
»Und dann?«
»Komme ich zurück.«
»Nach Australien?« Was hieß: Zu mir?
»Sobald ich kann.«
In den ersten drei Wochen kam aus Italien ein Brief. Kurz und gehetzt. Der Betrieb lag im Chaos. Seinem Bruder ging es gesundheitlich viel schlechter als behauptet. Sie schrieb einen langen Brief zurück, voller Fotos, voller Geschichten, um ihn aufzuheitern, ihm zu zeigen, wie viel ihr an ihm lag. Im Gegenzug erhielt sie eine knappe Postkarte. Sie schrieb einen weiteren Brief. Den nächsten. Ein halbes Jahr verging. Nichts. Sieben Monate, acht. Zwei Wochen vor Ablauf eines ganzen Jahres erhielt sie endlich einen zweiten Brief. Sie führte immer noch die gleiche Pension, viel länger als geplant. Sie wollte nicht umziehen. Sie wollte das Risiko nicht eingehen, dass nach ihrem Fortgang ein Brief eintreffen und den Weg zu ihr nicht finden würde.
Die erste Zeile genügte. Er kam nicht zurück. Er konnte nicht. Nicht, nachdem er sich mit der Tochter der ältesten Freundin seiner Mutter verlobt hatte.
Am nächsten Tag bot Lola die Pension zum Verkauf an. Einen Monat später lebte sie mit Jim bereits in einer neuen Stadt und einer neuen Pension. Sie hatte nicht geantwortet. Sie konnte nicht. Hätte sie lügen und schreiben sollen, dass sie verstand und ihm und seiner Verlobten alles Gute und viele glückliche, gemeinsame Jahre wünschte? Keines dieser Worte wäre von Herzen gekommen. Denn ihr Herz war gebrochen. Das hätte sie ihm schreiben können, doch wozu? Was hätte es geändert? Und so reagierte sie gar nicht. Und sie hatte auch kein weiterer Brief erreicht, falls er ihr überhaupt erneut geschrieben hatte.
Lola berührte sein Bild. Im nächsten Monat war es fünfzig Jahre her, jener Tag am Strand. Und was seither geschehen war! Sie war mit Jim von einem Motel zum anderen gezogen, sie waren beide älter geworden, Jim hatte Geraldine getroffen, die drei Mädchen waren auf die Welt gekommen, weitere Umzüge, die Tage auf der Bühne, bis sie alle zur Rast, einer nahezu glücklichen Rast gekommen waren, hier, im Clare Valley. Und was war hier nicht alles geschehen, hier, in diesem Motel.
Lola dachte auch an ihren Mann. Nach so vielen Jahren hatte sie Gewissheit, was sein Schicksal anbetraf. Kurz nach Annas Tod hatte sich seine Schwester ganz unvermittelt bei Lola gemeldet. Er war gestorben, daheim, in Irland, nach einem Wanderleben durch Australien und Amerika. Und sicher hatte er bis zu seinem Ende auch getrunken. Sie hatte mit seiner Familie gefühlt, doch nicht einen Moment bedauert, dass sie ihn verlassen hatte. Nun war sie wirklich und wahrhaftig Witwe.
Und Alex? Wie war es ihm ergangen? Hatte er eine lange, glückliche Ehe geführt? Mit vielen Kindern? Eine kurze, unglückliche Ehe, ohne Kinder? Lebte er überhaupt noch? Doch falls ja, hatte er immer noch so ein gutes Herz, oder hatte die Familie ihm das ausgetrieben? Hatte er immer noch diese sanften, dunklen Augen, oder war auch deren Licht erloschen? Sie schaute auf das Foto und lächelte erneut. Lange Jahre hatte sie sein Bild nur mit Wehmut, aber auch mit Wut, betrachten können: Was hätten sie nicht alles haben können, was hatten sie nicht alles aufgegeben. Nun aber, nach so langer Zeit, war es … war es gut, sein Gesicht zu sehen. Sie verspürte Neugierde, keine Schwermut. Wo er wohl lebte? Hatte er ein glückliches, ein gutes Leben geführt? Wie würde er nach all den Jahren aussehen?
Sie griff zum Telefon. Diese Nummer wusste sie auswendig. »Luke, hier ist Lola. Könntest du mich morgen vielleicht ein wenig früher abholen? Und mir etwas am Computer zeigen?«
»Es geht ganz leicht«, sagte Luke am nächsten Morgen, als sie vor dem Computer des Wohltätigkeitsladens saßen. »Du legst das Foto hier drauf, drückst auf den Knopf und voilà , schon ist das Bild digitalisiert. Mit anderen Worten, jetzt können wir alles Mögliche damit anstellen.« Er flog rasch über die Tastatur, und schon erschien die Webseite vom Vortag.
»Eine alte Flamme?« Luke sah sie mit einem warmen Lächeln an.
»Wenn du so fragst, ja.«
»Willst du sehen, ob du glücklich davongekommen bist?«
»Ganz genau.«
»Hattet ihr beide einen besonderen Song, den du hören möchtest, während das
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