Die Frauen von Clare Valley
nicht. Es hatte bei aller Trauer um Anna auch glückliche Momente gegeben, als sie selbst, als die ganze Familie nach einem Sinn, nach kleinen Krümeln Glück gesucht hatte. Die fröhlichen Erinnerungen an die singenden ABC-Schwestern. Der Stolz auf Annas Erfolg als Schauspielerin. Tränen, glückliche Tränen, beim Gedenken an Annas Güte und Großzügigkeit. Es waren die besten Zeiten, es waren die schlimmsten Zeiten. Das traf für jeden zu. Niemand ging durch ein Leben aus ausschließlich hellen Farben und warmem Licht. Trauer begleitete die Freude, zur Verzweiflung gesellte sich das Glück. Zur Angst trat Selbstvertrauen. Aber das Beste – oder war es das Schlimmste? – daran war, man wusste nie, wann das Licht erlosch, die Farbe verblich. Doch ebenso wenig ahnte man, wann das Licht wieder erstrahlte, wann Glück und Gutes Einkehr hielten, und das häufig, wenn man es am wenigsten erwartete. Manchmal sogar, wenn man es am dringendsten benötigte. So wie die Ankunft von Delia, Freya und George, gefolgt von den Zwillingen …
Sie hätte angesichts der Webseite nicht so aus der Fassung geraten dürfen. Jeder sagte, wie sehr Ellen ihrer Mutter ähnelte. Natürlich würde die erwachsene Ellen ihrer Mutter noch mehr ähneln. Trotzdem war es ein Schock gewesen.
Lola wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Album auf ihrem Schoß zu. Dort warteten keine Überraschungen. Sie wusste, dass es viele Bilder von Anna barg. Nicht nur von Anna, von allen drei Mädchen, der ganzen Familie, aus allen Lebensphasen. Lola blätterte langsam durch die Seiten. Sie fing hinten an, genoss es, in der Zeit zurückzuwandern und zu sehen, wie die Mädchen jünger wurden, Jims Haar fülliger, Geraldines wieder braun wurde, ihr eigenes, nun weißes, zu seinem ursprünglichen tiefen Kastanienbraun zurückfand. Weiter und weiter blätterte sie, durch zahlreiche Bilder von ihr und Jim vor jedem Motel oder Gasthaus, das sie geleitet oder bewohnt hatten. Es war zu einem Ritual geworden, am Tag der Ankunft und des Fortgangs je ein Bild zu machen. Mit jedem Foto wurde Jim kleiner und jünger, doch seine fröhliche Natur und Stärke zeigten sich in jedem Alter.
Am Beginn des Albums, in der irischen Rubrik, stieß Lola auf sich selbst. Sie hatte bei ihrer Emigration nur wenige Fotos mitgenommen. Sie besaß noch ein Bild von ihrem Elternhaus in Kildare, ein großes Haus auf dem Land, vor dessen Tor eine Eiche stand. Ein Bild von sich selbst, an ihrem Hochzeitstag, mit ihren Eltern unter Regenschirmen. Es war ein typischer, feuchter, irischer Sommertag gewesen. Ein Foto von ihr und ihrem Mann Edward vor der Kirche, in Hochzeitskleidung, und eines in lässigerer Kleidung, aufgenommen in den späten 1930er-Jahren auf dem Schiff nach Australien. Diese Bilder hatte sie ausschließlich für Jim bewahrt. Sie wollte nicht an ihren Mann erinnert werden. Das letzte Bild stammte von ihr selbst, als Kind in Kildare zwischen ihren Eltern. Sie berührte ihre Gesichter. Sie hatte ihre Eltern zuletzt gesehen, als sie mit zwanzig nach Australien gegangen war. Sie waren nun seit über fünfzig Jahren tot. Lola erinnerte sich kaum an sie. Traurig, aber leider wahr.
Das war es also. Ein ganzes Leben, rückwärts gelebt, in weniger als fünf Minuten. Ein Leben von vierundachtzig Jahren, so schnell überblickt. Nein, das war nicht alles. In einer Hülle steckte noch ein Umschlag. Mit etwa zwanzig Bildern, für die im Album kein Platz gewesen war. Noch mehr Motel-Fotos. Besonders komische Aufnahmen von Anna, Bett und Carrie aus ihren Tagen als ABC-Schwestern. Lola hatte für diese Lebensphase separate Alben angelegt, nur diese Bilder waren übrig geblieben. Es war schön, sie zu sehen, sich an diese glücklichen Tage zu erinnern.
Das letzte Foto aber war eine Überraschung. Es zeigte einen Mann von Anfang dreißig, mit sanften, dunklen Augen, schüchternem Lächeln und ordentlich gekämmten, schwarzen Locken. Das Foto war knapp fünfzig Jahre alt, doch Lola erinnerte sich genau, wo es entstanden war. Sie erinnerte sich nicht nur an den Ort, sondern auch an das, was an jenem Morgen geschehen, an das, was nach dem Foto geschehen, wie das Wetter an jenem Tag gewesen war. Eine leichte Brise hatte geweht. Es war einer der glücklichsten Tage ihres Lebens. Wenn sich diese Zeit in ihrem Innern zeigen würde, dann in goldenen Tönen und warmem Licht.
Sein Name war Alex Lombardi. Als das Foto entstanden war, war sie bereits vier Monate mit ihm zusammen gewesen. Sie hatten sich in
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