Die Frauen von der Beacon Street
dem mikroskopischen Universum in ihrem Inneren auf ihren Schoß.
Die Sterne in der Kugel blinkten, und sie fuhr mit dem Daumen über ihre Oberfläche, weil sie kaum glauben konnte, was sie da sah. Dann fingen die Sterne an, sich zu bewegen. Sie wanderten, zogen Kreise, wie in einem Zeitraffer, bis der winzige Nachthimmel tief im Inneren der Kugel auf einen dunklen, fernen Horizont traf.
Sibyl beugte sich noch tiefer und flüsterte: » Es ist einfach nur ein Traum, wie das legendäre chinesische Xanadu, was ich da sehe. «
Dovie hatte vielleicht etwas erwidert, doch Sibyl hörte sie nicht.
Der Horizont war glatt, eine klare Trennlinie zwischen dem Sternenhimmel und seinem gespiegelten Abbild. Sibyl zog konzentriert die Brauen zusammen. Dann begriff sie: Wasser. Sie sah die Oberfläche irgendeines Gewässers, spätnachts. Nachdenklich zog sie die Unterlippe zwischen die Zähne.
Ganz allmählich trat auf der Wasseroberfläche eine Veränderung ein. Das Wasser kräuselte sich, schäumte weiß auf. Sibyl hielt die Kugel mit beiden Daumen fest, ihre Hände packten die hölzerne Schachtel fest von unten, und dann hob sie sie hoch, bis sie sich auf der Höhe ihrer Nasenspitze befand. Sie atmete bewusst nur ganz flach, damit die Kugel nicht von ihrem Atem beschlug.
Das Schäumen auf der Wasseroberfläche ging weiter, so winzig klein, dass man es kaum sah, aber es war unmissverständlich da. Dann veränderte sich die Perspektive innerhalb der Kugel, und als Sibyl begriff, was sie da sah, erschrak sie so sehr, dass sie einen Schrei ausstieß.
Am äußersten Rand ihrer Wahrnehmung spürte sie, wie Dovie sich besorgt aufrichtete, und wie aus großer Ferne hörte sie ihre Stimme sagen: » Sibyl? Alles in Ordnung mit dir? «
Sibyl gab keine Antwort. Denn dort in der Kugel sah sie jetzt, in vollkommener Klarheit, den Bug eines Ozeandampfers, der voller Stolz durch die stille Nacht auf dem Meer pflügte.
FÜNFZEHN
Back Bay, Boston, Massachusetts
29. April 1915
H arley lag auf der Seite und ließ die Beine über die Kante seines Flechtbetts baumeln. Den Kopf hatte er aufgestützt. Seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, das Bettzeug lag in einem unordentlichen Klumpen am Fußende. Während er schlief, hatte sich offenbar irgendjemand ins Zimmer geschlichen und ein Fenster geöffnet, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen. Draußen prasselte ein warmer Regen auf die Beacon Street, nur unterbrochen durch ein Donnergrollen in weiter Ferne, draußen auf dem Meer.
Harlan gähnte und fragte sich, ob das Baseballspiel an diesem Nachmittag wieder verschoben würde. In den letzten Tagen war Boston schier in den Fluten eines einschläfernden Dauerregens versunken, der in grauen Dunstschwaden über den Straßen und Feldern hing. Er kratzte sich das unrasierte Kinn und blätterte die Seite der Zeitung um. Gelangweilt ließ er die Augen an den Schlagzeilen zum Krieg vorbeihuschen. Irgendwas über die Türken und die Briten bei Hill 60. Nur gut, dass sich die Vereinigten Staaten heraushielten.
Harley rollte sich auf den Rücken, vorsichtig wegen der Verbände um seine Leibesmitte, und seufzte. Die Zeitung fiel ihm aus der Hand, als er sich mit der Hand über den Bauch strich und sich wünschte, jemand hätte ihm sein Frühstück heraufgeschickt. Vermutlich wollte man, dass er aufstand. Zuerst war man in dieser Hinsicht sehr streng mit ihm gewesen. Sein Vater jedenfalls. Sibyl hatte da etwas mehr Nachsicht mit ihm.
» Er braucht seine Ruhe « , hatte sie zwei Tage nach seiner Heimkehr draußen auf dem Gang ihrem Vater gegenüber beharrt. Es hatte ein kleines Wortgefecht gegeben, weil man sich nicht darüber einig war, ob man ihn etwa verhätschelte, doch Sibyl hatte die Oberhand behalten. Und er brauchte doch wirklich seine Ruhe, oder? Schließlich hatte er eine angeknackste Rippe. Wenigstens ein Tablett hätten sie ihm hochschicken können. Mit ein wenig Speck. Ein bisschen Speck würde ihm ja schon reichen.
Harley stützte sich auf den Ellbogen und besah sich die Spuren der Verwüstung in seinem Zimmer. Eine laue Brise kam durch den Efeubewuchs vor seinem Fenster und brachte den lehmigen Geruch des Common mit sich. Es war ein Geruch, der Reinheit und Verfall zugleich in sich barg und ihn daran erinnerte, wie er als Junge im Wald Soldat gespielt hatte oder hinter Sibyl ins Flussbett gewatet war, wenn sie auf ihre einsame Jagd nach Aalen ging. Es war ein gutes Gefühl, wieder zu Hause zu sein.
Wenn der Regen
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