Die Frauen von der Beacon Street
den Ausrufen und perfekt einstudierten Gesichtsausdrücken, ohne dass dies notwendigerweise auch echt gewesen war? Wer war die wirkliche Dovie Whistler? Vielleicht gab es sie ja gar nicht.
Sibyl ging davon aus, dass alle Menschen verschiedene Rollen spielten, je nach den Umständen. Die Version ihrer selbst, die mit Lan Allston beim Frühstück saß, war Sibyl als pflichtbewusste Tochter, eine andere als die junge Frau, die in Vertretung von Helen den Haushalt in der Beacon Street führte, die nervös um Mrs Doherty herumschlich oder mit Betty in der Küche saß und den neuesten Klatsch aus ihr herauskitzelte. Und Sibyl als Schwester sah in Anwesenheit des misstrauischen und argwöhnischen Harlan anders aus als die junge Frau, die mit Benton über Harlans Zukunft am College beratschlagte.
Manchmal, wenn sie allein und unbeobachtet war, versuchte Sibyl, das, was man von ihr erwartete, von dem zu trennen, was sie sich selbst wünschte. Oft fand sie jedoch eine solche Trennung unmöglich und fragte sich, ob sie überhaupt ein wahres Ich besaß.
Sibyl kniff die Augen zusammen, ermüdet von den vielen Gedanken, die ihr im Kopf herumgingen.
» Dovie « , stieß sie unter Mühen hervor. » Lass mich mal eine Minute die Kristallkugel haben. «
» Wieso denn das? « , fragte Dovie, die ihr Spielzeug offenbar nicht gerne hergab.
» Möchte einfach damit spielen. Ich langweile mich. Als würde ich in meinem eigenen Hirn feststecken. «
Dovie lachte und reichte Sibyl die Schachtel. » Das kann passieren. Man weiß nie, was man da drinnen finden kann, stimmt’s? «
Ohne zu antworten, legte Sibyl die Schachtel auf ihren Bauch und öffnete den Deckel. Die Kristallkugel schimmerte im Feuerschein, noch lag sie sicher in ihrem samtenen Nest. Sibyl fuhr mit den Fingerspitzen darüber, zeichnete winzige Kreise, freute sich an ihrer Glätte. Ganz allmählich hörte ihr Verstand auf, nur noch um sich selbst zu kreisen, und sie genoss die Kühle des Glases auf ihrer Haut, die Wärme des Feuers, das weiche, anschmiegsame Gefühl der Chaiselongue.
In ihrem Bett aus schwarzem Samt schien die Kristallkugel alles Licht auf sich zu ziehen. Schwach schimmerte sie unter ihren Fingern. Sibyl konnte die milchigen Venen im Glas erkennen, die wanderten, als sie die Kugel mit einem Daumen ins Rollen brachte. Sibyl seufzte, spürte, wie sie ihr Körpergewicht mehr und mehr an die Liege abgeben konnte. Ihre Augen drehten sich weg.
Zeit verging, doch Sibyl wusste nicht, wie viel. Sie schwebte in einer Art Halbschlaf, in dem sie zwar bei Bewusstsein, jedoch vollkommen sorglos und wie unbeteiligt war. Die Oberfläche der Kugel verdunkelte sich, als würde das Licht nach innen gezogen und konzentrierte sich in einer Nadelspitze in ihrem Kern. Als Sibyl auf diese Spitze aus weißem Licht starrte, begann sich eine Wandlung zu vollziehen.
Unter ihren Fingerspitzen schien die Oberfläche der Kugel trübe zu werden. Die Kugel selbst bewegte sich nicht, doch ihre Oberfläche wirkte auf einmal wie verzerrt, aufgewühlt, glitschig. Sibyl spürte, wie ihr das Blut in den Venen pulsierte, und ihre Lippen öffneten sich, während sie fasziniert beobachtete, was in der Kugel vorging.
Das Kristall war ganz schwarz geworden, und das sonst klare Innere der Kugel war von Rauchschwaden verdunkelt, die aus ihrer turbulenten Mitte aufzusteigen schienen. Der Rauch verdichtete sich, wogte hin und her, vor und zurück, winzige Gewitterwolken stiegen in der Kugel auf, trafen aufeinander, als wäre die Kugel hohl, was sie nicht war. Ihre Fingerspitzen zuckten, wann immer sie auf die Kugel trafen, und der Rauch zog immer schneller vorüber.
Nach einer Weile wurden die Rauchschwaden träger und dünner, bis sie schließlich kaum mehr zu erkennen waren, wie Gewitterwolken, die am Himmel davonziehen. Sibyl blickte in eine Nacht hinein, die so dunkel war wie der Himmel an einem Tag draußen auf einem gemähten Feld auf dem Land, weit weg von den elektrischen Lichtern der Stadt. Das sphärische Firmament innerhalb der Kugel war mit winzigen Sternen übersät: ein vollkommener Nachthimmel in Miniatur.
Sibyl stieß ganz langsam den Atem aus, den sie, ohne es zu merken, angehalten hatte. Sie stützte sich auf die Ellbogen auf, zog sich in eine sitzende Position empor und beugte sich dann tief über das samtbezogene Innere der Schachtel, um genauer sehen zu können. Ganz vorsichtig und achtsam, damit die Federn der Chaiselongue nicht quietschten, legte Sibyl die Schachtel mit
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