Die Frauen von der Beacon Street
er sich erwählt hatte. Fast stolz war er darauf. Das enge Zusammenleben an Bord störte ihn nicht. Er liebte das ewige Knirschen des Schiffes, liebte sein Schwanken, und das nächtliche Schnarchen der anderen Seeleute war Musik in seinen Ohren. Auf See begab er sich viel leichter in die Hände des Schicksals, als er es jemals in dem Backsteinhaus an der Chestnut Street getan hatte, das er sein Zuhause nannte. Dort erschien ihm die Vorsehung wie ein Geist, der ihm immer irgendwo auflauerte, der ihn bis ins Bett verfolgte und zu seinen innersten Gedanken seine Meinung abgab. Auf See jedoch fügte er sich der Vorsehung gern; geradestehen musste Lannie hier nur für seine Taten, nicht für die Befindlichkeiten seiner Seele.
Selbst die unbequemen Seiten des Lebens auf See kümmerten ihn nicht. Aus Essen hatte er sich nie viel gemacht, es war für ihn eine Nebensache, ob es sich um gebratenes Täubchen am Tisch seines Vaters oder um gekochtes Pökelfleisch aus der Kombüse handelte. Er liebte das strenge Reglement der Wache, die technische Genauigkeit, mit der die Segel gesetzt wurden, und es gefiel ihm, ganz genau zu wissen, was die Pflicht ihm abverlangte und was nicht. Während sich die anderen Männer von ihren fleischlichen Gelüsten nach Frauen ablenken ließen, blieb Lannie lieber für sich, stolz auf seinen angeborenen Edelmut und seine Frömmigkeit.
Vielleicht kam das Beharren auf Frömmigkeit ja hauptsächlich von seiner Mutter; edelmütig war er jedoch in jedem Fall.
Nach den langen Tagen auf See vertrat er sich nun die Beine, die Hände tief in die Taschen gesteckt. Um ihn herum drängten sich die Menschen, zerlumpte Kinder bettelten ihn an, er blickte in die alterslosen Gesichter von Frauen mit verfaulten Zähnen. Bunte Lampions warfen ein flackerndes Licht, und Lannie sog den Lärm gierig in sich auf, aalte sich in der Mischung aus Angst und Erregung, nach der er sich gesehnt hatte, seit er auf dem Klipper angeheuert hatte. Das geheimnisvolle Land aus den Erzählungen seines Vaters war nicht irgendein wildes Märchenland aus dem Buch. Es war hier.
» Unglaublich, aber wahr « , murmelte Lannie und grinste vor sich hin.
Unter einigen seiner Schiffskameraden, die schon ordentlich gebechert hatten, war ein Streit darüber ausgebrochen, welche Bedürfnisse der Männer, die mehrere Wochen auf See gewesen waren, denn nun zuerst befriedigt werden müssten, und in welchem Viertel. In der Altstadt mit ihren hohen Mauern oder im internationalen Viertel? In der französischen Konzession? Doch wer hatte schon Lust auf diese knochigen, weißen Shanghai-Europäer, wenn nur wenige Schritte am Fluss entlang das Land der tausend Blüten lag?
Nach einer Weile setzte sich die Gruppe in Bewegung, ohne dass wirklich eine Entscheidung gefallen war. Lannie war erst ein paar Meter gegangen, als er das Gefühl hatte, der Boden schwanke unter seinen Füßen, und stolperte.
» Schon betrunken, Grünschnabel? Haben wir dir nicht gesagt, du sollst dich mit dem Schnaps in Acht nehmen? « , bellte einer der Männer neben ihm, ein grauhaariger Seebär namens Tom, dem seitlich drei Zähne im Mund fehlten. Zu Beginn ihrer Fahrt hatte er Lannie gegenüber behauptet, das sei geschehen, als er eine Musketenkugel mit dem Mund gefangen hatte, doch der Bootsmann hatte ihn später aufgeklärt, in Wirklichkeit habe der Barbier Tom die Zähne ziehen müssen, weil sie verfault waren.
» Nein! « , protestierte Lannie und schaute verwirrt auf seine Beine hinab. Noch einmal geriet er aus dem Gleichgewicht und musste sich, ohne es zu wollen, an Toms Schulter festhalten.
» Wird Zeit, dass du wieder Landbeine kriegst « , grinste Tom mit schurkischer Gewissheit. » Wir haben nur wenig Zeit an Land, dann geht es wieder auf See. Noch mal sechs Wochen Pökelfleisch, Gnade uns Gott. Und die Drei-Zoll-Mädels sind bestimmt nicht begeistert, wenn du dich nicht auf den Beinen halten kannst. «
Lannie warf seinem Kameraden einen Blick von der Seite zu. Toms schrecklicher Mund grinste, aber seine Augen blickten ernst.
» Klar « , sagte Lannie und zuckte auf eine Art mit den Achseln, von der er hoffte, sie sehe sorglos und lässig aus, die jedoch, was ihm zu spät einfiel, ebenso gut hochnäsig wirken konnte. Tom beobachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen. Lannie wand sich unter seinem prüfenden Blick, weil ihm klar wurde, dass er sich verraten hatte.
Er lächelte wieder, diesmal noch fröhlicher, weil er Tom zu verstehen geben wollte, dass er kein
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