Die Frauen von der Beacon Street
im Korsett eingesperrte Lunge zuließ, und zog die Türen auf.
Die einzigen Umrisse, die sie im Zwielicht des Raumes erkennen konnte, waren die rundlich geschwungenen Armstützen des Lehnstuhls ihres Vaters, einer letzten neoklassizistischen Bastion gegen Helens ästhetischen Kahlschlag, und die wuchtige Gestalt von Lan Allston selbst. Er stand mit dem Rücken zu ihr und machte sich am Kaminsims zu schaffen. Ein rhythmisches Surren drang an ihre Ohren, und Sibyl sah, dass er die Uhr aufzog.
Sie machte den Mund auf, um zu sprechen, doch er kam ihr zuvor.
» Du bist also wieder da. «
Eine Pause, in der das Surren anhielt.
» Ich habe Betty gebeten, wie üblich um halb acht zu servieren « , sagte sie und machte sich, wie immer, wenn sie mit einem Problem an ihren Vater herantrat, auf etwas gefasst. » Wir werden uns umziehen. «
Er brach in ein lautes, bellendes Lachen aus, zog seine Taschenuhr aus einer Westentasche, um die Uhrzeit zu vergleichen, nickte zufrieden und schob sie dann mit einer geübten Bewegung wieder in die Weste, um sich zu seinem ältesten Kind umzudrehen.
Lan Allston war mit fast siebzig ein Mann, den seine Zeitgenossen als » gut erhalten « bezeichnet hätten. Damit meinten sie nicht, dass es ihm gelungen wäre, sich einen Anschein von Jugendlichkeit zu bewahren – denn das war nicht der Fall –, noch dass er das allzu gepflegte Äußere eines Geschäftsmannes, Bankers oder Rechtsanwalts besaß. Stattdessen sah Lan Allston einfach genauso aus, wie man es von ihm erwartet hätte. Statt zu ergrauen, war sein Haar einfach dunkler geworden, wie Grafit, und er trug es kurz geschnitten und aus der Stirn gekämmt. Seine Koteletten waren so lang, wie es die Mode nur einem Mann erlaubte, der sein Glück auf See gemacht hatte. Seine Stirn war hoch und von Wind und Wetter zerfurcht, die Augen stechend blau, was so manchen aus der Ruhe brachte. Eine Brille trug er nicht.
Solange sich Sibyl erinnern konnte, hatte Lan immer fast gleich ausgesehen. Er trug elegant geschnittene Tweedanzüge, und sie hatte ihn noch nie in Hemdsärmeln gesehen. Am allerwichtigsten jedoch – zumindest ihm – war die Seemannsuhr aus Messing in seiner Westentasche, die er – so hatte man ihr immer erzählt – bei einem Kartenspiel mit einem anderen Seemann auf den Kanarischen Inseln gewonnen hatte. Das Chronometer war größer als eine durchschnittliche Taschenuhr, und ihr Vater machte ein solches Gewese darum, dass der Schneider die Westentasche dafür extra größer nähen und mit besonders weichem Seidenfutter ausstatten musste. Lans Hemdkragen waren rund und lagen akkurat über einer schlichten schwarzen Krawatte, die mit einer unauffälligen Krawattennadel am Revers befestigt war.
» Na ja, wenn du es für nötig befindest, dass wir uns umziehen, soll es so sein « , erwiderte Allston seiner Tochter in einem Ton, mit dem er wohl andeuten wollte, dass auch das Umziehen nichts an dem Problem mit Harlan ändern würde. » Aber sag bitte Mrs Doherty, sie soll laut und deutlich um sieben läuten, wenn ich mich umziehen soll. « Er warf einen unheilvollen Blick auf die Kaminuhr.
» Vielleicht solltest du sie mal nachschauen lassen « , schlug Sibyl vor. Lan Allston, das wusste sie, war ein Mann, der die Dinge lieber genau wusste als nur vage.
Ihr Vater brummte statt einer Antwort. Die beiden Allstons standen da und sahen sich schweigend an. Seit ihrer Kindheit wussten Sibyl und ihr Vater auch ohne viele Worte, was der andere dachte. Ihre Sprache bestand hauptsächlich aus Andeutungen und Mutmaßungen, aus Blicken und vermuteten Ansichten.
» Dann war dein Nachmittag also zufriedenstellend? « , fragte er. Er klang etwas barsch, doch Sibyl merkte an der Art, wie er die Augenbrauen zusammenzog, dass er an ihrer Antwort interessiert war.
Sibyl zögerte. Eigentlich hätte sie es ihm sagen sollen. Natürlich musste sie es ihm sagen. Noch immer schwebte das Bild der Hand ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge, und sie hätte ihre Aufregung darüber gern mit jemandem geteilt.
Doch als sie ihrem Vater wieder direkt in die Augen blickte, bemerkte sie, dass sein Gesicht verschlossen war.
» Ich habe sie schon immer unmöglich zu lesen gefunden, selbst als sie noch funktionierte « , entgegnete Sibyl und wies auf die Uhr.
Ihr Vater trat vom Kamin weg und schob einen Finger in die andere Westentasche. Er kramte eine Erdnuss mitsamt Schale hervor und rollte sie zwischen Finger und Daumen hin und her, während er den Raum
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