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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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Flussmündung des Jangtsekiang
    8. Juni 1868
    F lache Wellen schlugen gegen die Steuerbordseite des Kutters und schleuderten salzige Gischtzungen nach oben. Lannie schob die Hände in die Achselhöhlen und kniff die Augen zusammen. Es war seltsam, in einem so flachen Boot zu sitzen, so nah an der Wasseroberfläche. Fast hätte er eine Hand ausstrecken und damit den Ozean berühren können, ihn streicheln wie ein Tier. Denn das Meer sah wirklich aus wie ein atmendes Tier, ob nun seine Oberfläche glasig und glatt war oder vom Wind gekräuselt wurde. In seinen Monaten auf See hatte es sich Lannie zur Angewohnheit gemacht, zum Himmel zu blicken, wenn er wissen wollte, wie das Wetter wurde, den Horizont nach anderen Schiffen abzusuchen oder die Furchen zu beobachten, die der Wind auf den Brechern machte. Die Wasseroberfläche hatte er schon lange nicht mehr angeschaut. Doch da war sie nun, sie wogte unter ihm auf und ab, nur eine Armeslänge entfernt.
    Die anderen Männer im Kutter murmelten ruhelos vor sich hin und tasteten mit den Fingern nach dem Geld in ihren Taschen. Sie hatten eine lange Reise hinter sich, länger als geplant, und die Stimmung an Bord des Nordstaatenklippers Morpheo hatte sich von Erregung zu Überdruss und schließlich zu schwelendem Unmut gewandelt. Die Südpassage war schwierig; ganze zwei Wochen hatten schlimme Winde sie geplagt, als hätten irgendwelche vergessenen Meeresgötter, erzürnt über ihre Anwesenheit, ihre übelsten, eisigen Stürme zusammengebraut, um den kleinen Klipper bis nach Salem zurückzupusten und ihm den Weg ans andere Ende der Welt zu verwehren.
    Um ihn herum schwoll das Gemurmel der anderen an, die Spannung wuchs spürbar in den ruhelosen Leibern. Lannie schüttelte sich, wappnete sich für das Unbekannte. Woran die anderen gemerkt hatten, dass sie sich dem Festland näherten, hätte er nicht sagen können. Er kniff abermals die Augen zusammen, um in der zunehmenden Dunkelheit etwas erkennen zu können, benutzte all seine Sinne. Doch was er sah, war nur finsterer Dunst, und was er hörte, das Ziehen und Klatschen der Ruder des Beiboots, das sie über das Wasser brachte.
    Dann jedoch spürte er etwas – eine Veränderung. Die Luft zog weg von dem kühlen Atem des riesigen Ozeantieres unter ihm. Lannie spürte eine Druckwelle, während der Kutter in die faulig-feuchte Luft eintauchte, die vom Land her wehte. Er griff an seinen Mantel, um ihn aufzuknöpfen.
    Weit vor ihnen in der Ferne blinkte eine Reihe von Lichtern, jedes im Dunst von einer Aureole umgeben. Die warme Luftmasse trug Geräuschfetzen zu ihnen herüber: Rufe, das Knarren von Karrenrädern, leise Musik. Während sie sich dem Kai näherten, strömten feine Gerüche vom Land durch Lannies Nasenflügel: zuerst die vertrauten Gerüche des Hafens – Brackwasser, faulender Fisch, Seegras. Und dann fremde Dinge: Essensdüfte, etwas, das brannte, Tiere, das betörende Aroma von Blüten. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er nach vorne.
    Dann endlich wurde aus den Lichtpunkten eine Reihe von Papierlampions, die in den Fenstern von Häusern hingen. Es waren bescheidene Gebäude aus Bambus und Lehm, die auf Stelzen über dem Wasser ruhten; hinter ihnen erhoben sich größere Gebilde, die sich langsam als die neuen Steinhäuser der Hafenverwaltung entpuppten. Jetzt wurde Lannie bewusst, dass er keineswegs auf ein belebtes Dorf blickte, sondern auf eine moderne Stadt. Und noch ehe er das begriffen hatte, war sie einfach da.
    Shanghai.
    Der Kutter legte mit einem hohlen Rumpeln am Dock an, und hektische Betriebsamkeit brach aus, als Männer an Land sprangen, um die Taue festzumachen. Die anderen Seeleute versammelten sich unter großem Grölen am Dock. Jetzt mischten sich ihre Stimmen unter die Rufe der Straßenhändler und den Lärm der Anlegestelle, und ein Beben der Erregung ging durch Lannie, weil er es kaum erwarten konnte, an Land zu gehen und in eine Welt einzutauchen, von der er noch nichts wusste.
    » Lasst uns Greenie nicht vergessen « , mahnte eine ruppige Stimme, jemand packte ihn an den Armen, hob ihn hoch, und einen Moment lang baumelten seine Beine strampelnd über dem Schandeck, ehe er wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
    Greenie war ein Spitzname, den er mit Humor zu nehmen versuchte, obwohl er eigentlich fand, dass er kein Grünschnabel mehr war. Immerhin schon siebzehn Jahre alt, liebte Lannie mit seinem sandfarbenen Haar, der schmalen, langen Nase und den wasserblauen Augen den Beruf, den

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