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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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zischte Sibyl dann.
    Ihr Vater trat aus dem Dunkel heraus und bewegte sich auf das Licht zu. Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
    » Aha « , sagte er mit einem grimmigen Lächeln. » Dann hast du wohl noch nicht die Parallaxe entdeckt. Na ja, ist wahrscheinlich auch besser so. «
    » Parallaxe? « , erkundigte sich Sibyl und zog die Brauen zusammen. In ihren Augen blitzte es finster auf. » Was für eine Parallaxe? Was bedeutet das? «
    » Es bedeutet « , er zog die Worte nachdenklich in die Länge, » dass Objekte – oder in diesen Fall, Ereignisse zu einer bestimmten Zeit – manchmal anders aussehen können, wenn man sie aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. «
    Benommen lehnte sich Sibyl mit ihrem vollen Gewicht im Sessel zurück. In den schummrigen Tiefen des Salons gab Baiji ein leises Niesen von sich.
    » Anders? « , fragte sie atemlos. » Willst du mir damit sagen, es besteht die Möglichkeit, Alternativen zu sehen? Jedes Mal, wenn ich es versucht habe, habe ich immer nur das eine Ereignis gesehen, und wenn es dann vorüber war, sah ich den Beginn eines anderen. Jedes Mal wurden es mehr Einzelheiten. Und manchmal veränderten sich diese Details, doch das entzog sich meiner Kontrolle. Ich hatte überhaupt keine Kontrolle darüber. «
    Ihr Vater seufzte erneut und fuhr mit den Fingerspitzen über den Rücken seines Lehnstuhls. » Ich hätte besser nichts gesagt « , meinte er schließlich. » Lassen wir das. «
    » Sag es mir « , befahl ihm Sibyl, der das Herz bis zum Hals klopfte. Sie ballte die Hand auf ihrem Sessel so fest zur Faust, dass die Nägel ihr ins Fleisch schnitten. » Sag mir, wie es gemacht wird. Du musst. «
    » Ich muss ! « , rief er und blickte mit milder Überraschung zu ihr empor. » Nun, nun. Was für eine willensstarke Tochter ich auf einmal habe. Deine Mutter dachte immer, der Dickkopf sei Eulah, weißt du. Aber ich wusste es besser. «
    » Ach, jetzt sag es mir schon! « , stieß sie wütend hervor.
    Ihr Vater reagierte auf ihren Ausbruch mit einer leicht angehobenen Augenbraue. » Du weißt doch « , entgegnete er, umrundete den Kamin und kehrte dann wieder zum Sims zurück, » dass ich in Salem aufgewachsen bin, oder? «
    Verwirrt durch diesen offenkundigen Themenwechsel schüttelte Sibyl den Kopf und runzelte die Stirn. » Was? Natürlich. Du hast uns sogar, als wir klein waren, mal mitgenommen, um uns dein Elternhaus zu zeigen. Was ist denn damit? «
    » Die Chestnut Street « , seufzte Lan wehmütig. » Dort habe ich glückliche Zeiten verbracht. Ein Junge, der tun und lassen konnte, was er wollte, in einer quirligen Hafenstadt, in der jeden Tag Schiffe aus dem Fernen Osten eintrafen, mit unbekannten Früchten, Gewürzen und seltsamen Männern mit Gold im Ohrläppchen. Das war eine richtige Seefahrerstadt. Na ja, Schnee von gestern. « Er schüttelte seine Gedankenverlorenheit ab und saß wieder konzentriert in seinem klassizistischen Armstuhl, den Kopf in die Hand gestützt.
    » Papa « , warf Sibyl ein, doch er brachte sie mit einer erhobenen Hand zum Verstummen.
    » Mein Vater, dein Großvater « , fuhr Lan fort, » der erste Harlan Allston. Wie ich heiratete er eine Frau, die viel jünger war als er, nachdem er erfolgreich Karriere zur See gemacht hatte. Er war praktisch in den allerersten Jahren des letzten Säkulums geboren und noch ein Mann des achtzehnten Jahrhunderts. Kannst du dir das vorstellen? Die Revolution war noch frisch in den Köpfen der Leute, als er ein Junge war. Die alten Häuser standen noch. Die Leute erschreckten ihn mit allerlei Gruselgeschichten über Hexen, die in riesigen Kesseln aus kleinen Jungs Eintopf kochen, und dann hat mich Mutter mit den gleichen Ammenmärchen geängstigt. Manchmal frage ich mich, was mein Vater vom heutigen Boston gehalten hätte, wenn er es sehen könnte. Die Automobile. Das elektrische Licht. Die Menschen. So viele Menschen von überall aus der Welt. Das hier ist eigentlich eine irische Stadt, weißt du, Sibyl. Die Zeiten ändern sich, und man kann die Uhr niemals zurückdrehen. Wir meinen, dass wir uns durch unsere Herkunft von anderen abheben, doch da täuschen wir uns. «
    Sibyl schaute ihn an. Ihr Gesicht war zu einer Fratze der Verwirrung und des Ärgers erstarrt.
    » Nun, diese Tage sind vorbei. Ich will nicht so tun, als wüsste ich, ob das besser oder schlechter ist. Ich zog mit deiner Mutter hierher nach Boston, weil sie inmitten von vornehmen Leuten leben wollte. Salems Seefahrerzeiten sind

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