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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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    Sibyl ließ den Kopf hängen und wischte sich mit dem Finger über die Augenwinkel. Sie spürte, wie ihr Vater ihr die Hand auf den Kopf legte und ihn sanft und beruhigend tätschelte.
    » Na, na « , murmelte er. » Weine nicht, mein Liebes. Bitte weine nicht. «
    Sie gab keine Antwort, sondern legte nur die Stirn auf ihre Hände, die noch immer ineinanderverschlungen auf seinem Knie lagen. So saßen sie lange Zeit da.
    Schließlich schluckte Sibyl ihre Tränen hinunter und sagte: » Aber Papa. Was soll ich denn … was soll ich ihm denn sagen? «
    » Du sollst gar nichts sagen « , riet Lan Allston. » Du sollst ihn seine eigene Wahl treffen lassen, geführt von Gottes Hand. Selbst Gott kann uns nicht zu anderen Menschen machen als die, die wir sind, aber er kann uns in seiner Liebe den bestmöglichen Weg zeigen. Das ist das Beste und Wahrhaftigste, was du für deinen Bruder tun kannst. Du musst ihm das Gefühl lassen, frei zu sein. «
    Sie blickte forschend in sein Gesicht, entsetzt von dem, was er von ihr verlangte. » Aber wie soll ich ihm gegenübertreten? « , fragte sie erschüttert. » Wie kannst du von mir verlangen, nichts zu sagen, ihn gehen zu lassen? Was soll ich denn Dovie sagen? Und Benton? «
    Der alte Seemann lächelte matt auf seine verzweifelte Tochter hinab. » Du hast die Stärke. Und indem du all diese Fragen stellst, zeigst du mir, dass du allmählich begreifst, wie gefährlich, wie schrecklich diese Fähigkeit ist. Du musst sie aufgeben, ehe es zu spät ist. Ich flehe dich an. Gib sie auf. Wir werden einen Weg finden, dir zu helfen. Aber du musst sie aufgeben. «
    Er umschloss ihre Hände, drückte sie zwischen seinen rauen Seemannshänden. Sibyl spürte ihr Zittern, das sie jetzt als das begriff, was es war: nicht das Zeichen von müden Händen, geschunden durch ein Leben auf See, sondern Zeichen seiner Abhängigkeit, seiner Versklavung und der schrecklichen Versuchung der Hellseherei.
    Sibyl blickte hinab, entzog ihm ihre Hände und rappelte sich auf. Dann richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und sah auf ihren gealterten Vater hinab, der ihren Blick mit kummervollen Augen erwiderte.
    » Tut mir leid « , sagte sie. » Das kann ich nicht. «

SECHSUNDZWANZIG
    S ibyl eilte in den großen Salon, die Arme um sich geschlungen, und als Benton und Dovie ihr erschüttertes Gesicht sahen, sprangen beide auf.
    » Liebling « , rief Benton, trat zu ihr und legte die Hände auf ihre Schultern. » Was ist denn? « , fragte er, als er sah, wie verzweifelt sie war. » Was ist denn passiert? «
    Sibyl zwang sich zu einem Lächeln und warf die lose Haarsträhne schwungvoll aus ihrer Stirn, was sie flüchtig wie Harlan aussehen ließ. » Es ist nichts « , entgegnete sie und legte sanft eine Hand an Bentons Wange. Seine Haut war stoppelig, ein Zeichen dafür, wie spät es bereits war. Sie konnte es sich nicht verkneifen, kurz mit dem Daumen über seinen Mundwinkel zu streichen.
    » Es muss doch etwas sein « , beharrte er, und seine dunklen Augen füllten sich mit Sorge.
    » Nein, wirklich. Es ist einfach nur schon so spät. Ich bin so müde, dass ich kaum mehr geradeaus gucken kann. Du musst doch auch furchtbar müde sein. «
    » Gewiss « , erwiderte er zögerlich.
    Dovie, deren Gesicht mit einer Mischung aus Tränen und Kajalspuren verschmiert war, näherte sich vom Erkerfenster aus und machte sich diskret bemerkbar.
    » Ich muss zugeben, ich bin auch schrecklich müde, Sibyl « , sagte die jüngere Frau und legte ihrer Freundin eine Hand auf den Arm.
    » Kein Wunder. « Sibyl strich Dovie beruhigend über die Hand und lächelte beide an. » Dann fällt die Entscheidung leicht. Benton, du solltest vielleicht den Heimweg antreten. Ich bringe Miss Whistler nach oben, und wir verschieben unsere Schlachtpläne gegen den Kaiser auf morgen. Okay? «
    Benton schien immer noch zu zaudern, zückte jedoch seine Taschenuhr und stieß einen leisen Pfiff aus, als er sah, wie spät es war. Schließlich steckte er sie wieder in die Tasche zurück und hängte sich bei Sibyl ein. » Ein Vernunftwesen bis zum Letzten, aber na gut. Bis morgen Nachmittag habe ich keinen Unterricht. Soll ich dann zum Frühstück vorbeikommen? «
    » Ich sage Betty, dass sie dich einplanen soll « , stimmte Sibyl zu.
    Sie und Dovie brachten Benton Arm in Arm zur Tür und warteten, während er in seinen Mantel schlüpfte. Er begegnete Sibyls Blick und schien kurz in Erwägung zu ziehen, sie zu küssen. Doch sie bewegte sich nicht,

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