Die Frauen von der Beacon Street
geschlossen, doch jetzt saß er in einer Bar, wie es den Anschein hatte. Glassplitter lagen überall verteilt auf dem Boden, und ein Rinnsal aus Blut verlief von seinem Haaransatz bis über seinen Nasenrücken.
» Das kann nicht möglich sein! « , rief Sibyl erneut, und ihre Stimme wurde schrill, während sie die Kugel drehte. Jetzt saß Harlan wieder im Büro, etwas jünger, mit anderem Mobiliar, und das Sonnenlicht fiel in einem anderen Winkel durchs Fenster. Langsam krümmte sich sein Finger um den Abzug, langsam, ganz langsam, und Sibyl schrie: » Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Es muss einen Weg geben! Es muss! «
Sie drehte die Kugel noch einmal, doch während sie das tat, zerplatzte das Bild darin auf einmal in einer gewaltigen roten Wolke.
Sibyl stieß ein kehliges Wimmern aus, wortlos, verzweifelt, den Kopf zurückgeworfen, die Haare gelöst auf den Schultern. Heiße Tränen quollen aus ihren Augenwinkeln. Sie spürte Hände auf ihren Schultern, die sie schüttelten, hörte Stimmen, die ihren Namen riefen, um sie zu wecken, doch sie wand sich, riss sich los, hielt sich die Kugel vors Gesicht, um noch einmal hineinzuschauen, nur noch einen Blick hineinzuwerfen. Sie musste es einfach sehen, es musste eine Alternative geben, etwas, an das sie noch nicht gedacht hatte …
Doch die Kristallkugel war blutrot verfärbt, und sie konnte sie noch so viel drehen und wenden, die Farbe blieb.
Und sie wusste, sie würde immer bleiben.
Mit einem Schrei, der sich der Tiefe ihrer Seele entrang, schleuderte Sibyl die Kristallkugel in den gemauerten Kamin. Sie zerbarst in Tausende von Stücken, die sich weit über der Feuersglut und dem Boden verteilten, glitzernde Splitter, die funkelten wie Tränentropfen oder wie Sterne. Sibyl schluchzte, stöhnte. » Das ist nicht möglich, es kann nicht möglich sein « , sagte sie wieder und wieder und sank schließlich in die Arme der Menschen, die sie zu bändigen versuchten.
Erschöpft und weinend rang sie nach Luft und sah durch den Schleier ihrer Tränen hindurch, wie sich die Farbe der Glassplitter veränderte, von Rot über Kristallklar bis schließlich Milchweiß.
SIEBENUNDZWANZIG
Westmorly Court, Harvard Square, Cambridge, Massachusetts
8. Mai 1915
D as Rascheln der Spatzen, die in den Bäumen ringsum herumturnten, kam Sibyl wie eine abartige Laune der Natur vor. Aus verweinten Augen schaute sie in eine Welt hinaus, die unverändert war und deren Gleichgültigkeit sie kränkte. Das Morgenlicht war dünn und grau, wässrig, der Beginn eines milden Tages. Ein Gemüsekarren rollte die Massachusetts Avenue entlang, gezogen von einem leise wiehernden Pferd, das sich von seinem Besitzer mit den winzigsten Bewegungen am Zügel lenken ließ. Ein Eichhörnchen hockte neben dem ehrwürdigen Wohnheimgebäude, wo sie sich selbst befand, im Gras, und suchte schnüffelnd zwischen den Wurzeln eines Baumes nach versteckten Nüssen. Sie lehnte die Wange an die Tür zum Wohnheim, ruhte sich aus. Nur einen Moment. Dann hob sie die Hand und klopfte mit der Handfläche an die Tür.
Und klopfte.
Klopfte.
Klopfte.
Sie wartete. Ihre Lippen waren aufgesprungen, das Haar klebte ihr verschwitzt an der Stirn. Das Ohr an die Tür gepresst, hörte sie, dass sich drinnen etwas rührte. Sie schloss die Augen.
Wie sie nach Cambridge gelangt war, war unklar. Das Letzte, an das sie sich erinnern konnte, war ihr Wimmern, ihr tiefes und entsetzliches Wehklagen, und das Gefühl von Händen auf ihren Armen und um ihre Taille, die sie von ihrem Lager gezogen hatten, unter allerlei Ermahnungen, endlich still zu sein. Man hatte sie eine Treppe hinuntergebracht – war sie gefallen? Oder war sie erst unten gestolpert? Sibyl war sich nicht sicher, doch dann hatte jemand sie jedenfalls mit Gewalt auf die Straße hinausbefördert. Ein Mantel wurde ihr hinterhergeworfen, und sie taumelte, verlor das Gleichgewicht, als sie versuchte, ihn aufzuheben. Er war unmöglich zu packen, entglitt ihr immer wieder, und so war sie ohne ihn weitergestolpert. Da war ein Automobil gewesen – ein Fremder? Nein, niemals wäre sie bei einem Fremden in den Wagen gestiegen, erst recht nicht bei Morgengrauen –, und das hatte sie bis hierhergebracht. Warum hatte es sie hierhergebracht?
Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Sie sah direkt in die Fratze eines steinernen Wasserspeiers, der auf sie herabgrinste. Sie hob ihren Arm, ihren schweren Arm, und schlug mit der Faust an die
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