Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
Vom Netzwerk:
Schimmern. Die winzige Veränderung des Lichts innerhalb der Kristallkugel hatte die gleiche Wirkung, wie wenn man in ein Kaleidoskop blickt und die bunten Glasstückchen darin durch kräftiges Rütteln in eine neue Ordnung bringt.
    Sibyl hielt die Kugel nah ans Feuer, damit sie alles noch besser erkennen konnte. Sie sah nach wie vor Harlans Gesicht, verängstigt, mit weit aufgerissenen Augen, doch es war nicht mehr schlammbespritzt. Es war sauber, und sein Haar war gekämmt. Er sah älter aus, jedoch nicht viel: Um seinen Mund und die Augen lagen ein paar neue Fältchen, und seine Haut war von gröberer Beschaffenheit – das Gesicht eines Mannes Mitte zwanzig. Das Alter, in dem Sibyl jetzt war. Sibyl kniff die Augen zusammen.
    Ihre Perspektive zog sich zurück, und jetzt saß ihr Bruder an einem großen Schreibtisch, umgeben von zerknüllten Papieren. Es war später Abend, das Licht einer grünen Schreibtischlampe fiel von unten auf sein Gesicht, was seinen Zügen eine gespensterhafte Tiefe gab. Seine Augen waren rot unterlaufen und von dunklen Ringen umgeben, die Haut wirkte wie Wachs. Seine Nase war rot und voller geplatzter Äderchen, und überhaupt wirkten seine Züge schwammig und aufgedunsen, als habe ihm das Leben bereits in jungen Jahren zu viel abverlangt. Neben ihm stand eine Flasche Branntwein, fast leer, und ein breites, flaches Whiskeyglas voller Fingerspuren. Er schlug die Hände vors Gesicht, seine Schultern bebten.
    Lange Zeit sah Sibyl ihrem Bruder dabei zu, wie er sich an den Papieren auf seinem Schreibtisch zu schaffen machte, immer deutlicher von Verzweiflung gepackt. Möglicherweise handelte es sich um einen Schreibtisch in einem Büro der Schifffahrtsgesellschaft ihres Vaters, doch genau wissen konnte Sibyl es nicht. Ihr Bruder wirkte ausgezehrt, als hätte ihm Kummer die Seele weggefressen. Jetzt beugte er sich hinab, zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und wühlte darin. Dann legte er das, wonach er gesucht hatte, in seinen Schoß. Er wandte sich wieder der Flasche zu, leerte auch den letzten Rest Brandy in das Glas und stürzte ihn mit zitternder Hand hinunter.
    » O Harley « , flüsterte Sibyl, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass sie etwas gesagt hatte.
    Natürlich konnte die Erscheinung ihres Bruders in der Kristallkugel sie nicht hören. Stattdessen hob er langsam das Objekt von seinem Schoß und legte es behutsam auf den Schreibtisch.
    Es war eine Pistole.
    Sibyls Augen weiteten sich vor Entsetzen, und sie flüsterte: » O mein Gott, Harley, nein. « Aber das spielte keine Rolle, er konnte sie nicht hören, sondern war nur die Vision einer möglichen Zukunft, die ihn erwartete, wenn er nicht nach Europa ging. Sibyl begriff jetzt, wenn ihr Bruder nicht wegging, wie geplant, würde er ganz allmählich in einem Leben der Ausschweifung und des Grolls versinken. Irgendwann würde man ihm eine untergeordnete Tätigkeit in der Firma ihres Vaters geben, doch er würde nie wieder etwas Besonderes leisten. Und niemals würde er der Mann werden, der zu sein er ersehnte.
    Sibyl schüttelte den Kopf, sagte: » Nein, das kann nicht möglich sein, es muss einen anderen Weg geben. «
    Die Kugel zwischen Finger und Daumen haltend, drehte sie sie um neunzig Grad, der Feuerschein glitt über ihre Oberfläche, und das Licht im Kristall veränderte sich erneut, wieder so, als hätte man an einem Kaleidoskop gerüttelt. Drinnen veränderte sich das Bild, und die Umgebung, in der sich Harlan befand, wandelte sich. Auch diesmal schaute ihr Bruder auf eine Pistole hinab, doch jetzt lag sie in den Händen eines zerlumpten Mannes an irgendeiner dunklen Straßenecke. Kopfschüttelnd drehte sie die Kugel wieder um neunzig Grad, das Bild setzte sich neu zusammen, und da war ihr Bruder, immer noch derselbe. Erneut lag die Pistole in seiner eigenen Hand, und jetzt hob er sie ganz langsam an seine Schläfe. Er saß in einem Lehnstuhl in seinem Schlafzimmer im Haus an der Beacon Street.
    » Das kann nicht möglich sein! « , wiederholte Sibyl mit erhobener Stimme. Ganz am Rande ihres Bewusstseins nahm sie wahr, dass sich, als Reaktion auf ihren Schrei, auf den Sofas ringsum einige Köpfe hoben.
    Wieder drehte sie die Kugel, rollte sie diesmal jedoch nach oben, und das Licht innerhalb des Glasballs stürzte zusammen, bildete sich erneut rund um Harlans Gesicht und löste sich wieder in ein Bild von ihm auf. Er war so alt wie vorher, hatte nach wie vor die Pistole an seine Schläfe gepresst, die Augen

Weitere Kostenlose Bücher