Die Frauen von der Beacon Street
der Wälle in Deckung, um sich die Gesichter der jungen Männer anzusehen, die darin kauerten. Sie sah die schlammige Masse, in der ihre Füße standen, sah den toten Jungen mit den entsetzlich offenen Augen, der halb im Matsch versunken war. Dann näherte sie sich Harlans Gesicht unter einem schief sitzenden, kreisrunden Helm, die Wangen mit Schlamm und Blutspritzern besudelt, die Augen weit aufgerissen und voller Angst. Die Uniform ihres Bruders war anders als die der Jungen um ihn herum, als gehörte er gar nicht dorthin, doch warum das so war, hatte sie noch nicht herausgefunden. Und dann sah sie, wie etwas in die Luft flog. Wie jedes Mal riss die Explosion sie aus ihrem Traum, brachte sie ins Bewusstsein zurück, als könne ihr Verstand das, was folgte, einfach nicht ertragen.
Insgesamt hatte sie die Vision vier- oder fünfmal durchschritten, und nichts veränderte sich. Mehr Einzelheiten, aber keine Alternativen. Die Figuren des Schauspiels blieben immer gleich, und auch die Abfolge der Ereignisse veränderte sich nicht. Sie stöhnte und blinzelte. Ihrer Augenlider fühlten sich so trocken an, als wären sie aus Sandpapier, und sie ließ den Kopf zurücksinken, blickte zur Decke hoch.
Ein Gesicht beugte sich über sie, schob sich wie ein Geist in ihr Gesichtsfeld. Es war Quincey, der Mann, der ihr bei dem komplizierten Ritual half, welches nötig war, um das Opium für den Konsum vorzubereiten. Es war ein unheimliches Gesicht, das Haar zurückgestrichen und eng am Schädel anliegend, von dem unter der papierenen Haut jedes Detail zu erkennen war. Sein Mund mit den verfaulten Zähnen verzog sich zu einem Grinsen, als er sah, dass sie wach war.
» Miss? « , krächzte er. » Möchten Sie noch was? «
Sibyl hustete, stützte sich auf einen Ellbogen und warf einen müden Blick auf die Kristallkugel auf ihrem Schoß. Dann wandte sie sich an Quincey und sagte: » Ja, noch eine Schale voll. Machen Sie bitte alles bereit. «
Lächelnd und eifrig nickend, beugte er sich über das Lacktischchen und begann mit den üblichen Vorbereitungen, dem Stopfen und Kneten und Rollen. Während sie wartete, legte sich Sibyl auf die Samtcouch zurück, die Füße unter ihren ausgebreiteten Röcken hochgezogen, die Wange in die Hand gelegt. Sie hielt sich die Kristallkugel direkt vor die Nase und schaute genau hin. Inmitten der Kugel schimmerte ein schwaches Licht, doch sie glitzerte nicht, wie sie das manchmal tat, sondern gab ein tieferes Licht ab, als wäre sie durch den häufigen Gebrauch wie poliert. Sie würde es noch einmal versuchen. Es war immer noch Zeit. Sie musste einfach.
Quincey reichte ihr ohne ein Wort die Pfeife, und sie drückte das Mundstück an ihre Lippen, beugte sich vor und hielt den kleinen Keramikbehälter an die Flamme. Quincey brachte den nadelspitzengroßen Klumpen Opium an die Öffnung des Pfeifenbehälters, und Sibyl atmete tief ein, sah, wie die kleine Perle sich entzündete und sich eine winzige Flamme bildete. Wie immer genoss sie das betäubende Gefühl, das sich in ihrer Mundhöhle ausbreitete. Dann lehnte sie sich zurück, spürte, wie ihr die Pfeife aus den Händen genommen wurde, und stieß den Atem aus. Doch diesmal blieb die Wirkung, wie sie sie kannte, aus. Vorbei war es mit der Wärme, die sich zu Beginn so köstlich in ihr ausbreitete und nach der sie sich sehnte. Stattdessen fühlte sie sich ganz ruhig, noch ohne Schmerz, doch mit dem leisen Gefühl, dass dieser Schmerz irgendwo lauerte.
Sie schloss die Hände um die Glaskugel und hielt sie sich ans Gesicht, blickte konzentriert in ihre milchigen Tiefen. Mittlerweile musste sie nur noch ein oder zwei Sekunden warten, bis sie sich mit Rauch zu füllen begann, der schwarz und ölig aussah wie Ruß. Noch ein paar Momente, in denen er waberte und sich wie immer bauschte, dann zog er sich auseinander, als würde er seine Fühler ausstrecken, und gab den Blick auf die zerwühlte Erde mit den tiefen Gräben frei. Alles war so, wie sie erwartete.
Tief in den Muskeln ihres Rückens spürte Sibyl jetzt, wie sie, verborgen unter der tröstlichen, künstlichen Weichheit der Droge, ein Krampf durchzuckte. Sie hatte sich seit Stunden kaum gerührt, und ihr Korsett hatte sich in ihr Fleisch gebohrt und tiefe Striemen hinterlassen. Sibyl veränderte ihre Lage und rollte sich vom Rücken auf die Seite. Das Licht wanderte über die Oberfläche der Kugel hinweg, glitt hauchzart darüber wie ein seidener Schal und brachte die zernarbte Landschaft zum
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