Die Frauen von der Beacon Street
weil sie es nicht gewohnt war, durchschaut zu werden, griff Sibyl nach der Schüssel und nahm einen Löffel voll. Es war köstlich.
Sie saßen eine Weile so da, frühstückten, tranken Kaffee und vermieden jede Diskussion über den Zustand, in dem Sibyl sich befunden hatte, als sie auf seiner Türschwelle stand. Sibyl hatte ganz vergessen, dass er im selben Wohnheim untergebracht war, in dem auch Harlan gelebt hatte. Oder vielleicht hatte sie es ja auch gar nicht vergessen, sondern irgendwo im Hinterkopf doch noch gewusst. Vielleicht hatte sie ja auch nur nicht in einem solchen Zustand zu Hause erscheinen wollen. Sibyl errötete vor Scham. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und blickte zur Seite.
» Sibyl? « , fragte Benton.
Sie schüttelte den Kopf, schlug die Hand vors Gesicht.
Er stand auf und setzte sich neben sie auf die Couch. Sibyl gab ein klägliches Schniefen von sich, und Benton nahm sie in die Arme. Sie barg das Gesicht an seinem Hals, und heiße Tränen tropften auf seinen Pullover.
» O Ben « , schluchzte sie.
» Psst « , flüsterte er ihr ins Haar.
Sie spürte seine Hand auf ihrem Hinterkopf, seine Finger in ihrem Haar, die sie streichelten, sie trösteten. Jammernd schlang sie die Arme um ihn und gab sich ihrem Kummer hin. Es war ihr gleichgültig, was er von ihr dachte.
Als ihr Schluchzen sich endlich beruhigte, machte er sich sanft von ihr los, und sah sie an.
» Bist du bereit, mir zu erzählen, was geschehen ist? « , fragte er. In seiner Stimme klang keine Bewertung mit an.
Sie senkte den Blick auf die Hände in ihrem Schoß und nickte.
Rasch, immer wieder mit nervösen Blicken unter den Wimpern hervor, um seine Reaktion zu sehen, schilderte Sibyl ihm ihre Unterredung mit ihrem Vater. Als sie ihm erzählte, Lan habe mehrfach selbst Hellseherei betrieben und sei bereits in jungen Jahren vom Opium abhängig geworden, strich sich Benton bestürzt durchs Haar, sagte jedoch nichts. Schließlich beschrieb sie ihm, was sie über Harlans Zukunft gesehen hatte, seinen unvermeidlichen frühen Tod in Elend und Schmach.
» Deshalb habe ich mich daheim fortgeschlichen « , schloss sie ihren Bericht und blickte dabei auf den Saum ihres Rocks, mit dem sie die ganze Zeit spielte. » Als Papa mir gesagt hat, es sei möglich, Alternativen zu sehen, dachte ich – nein, wusste ich, dass ich etwas tun musste. Um Harlan zu helfen. Aber ich habe es nicht richtig gemacht. Jedes Mal, wenn ich die Kugel drehte, sah ich doch dasselbe Bild. « Ihre Stimme stockte.
Benton saß neben ihr und lauschte. Nach einer Weile meinte er mit wohlbedachten Worten: » Weißt du, es gibt Schlimmeres als den Tod. «
Sibyl starrte ihn entsetzt an. » Was meinst du damit? Was könnte denn schlimmer sein, als zu sterben? «
Er schaute sie von der Seite an. Sein Gesichtsausdruck war milde. » Nun, wir müssen doch alle sterben, oder? «
Sie blinzelte, lehnte sich zurück.
» Vielleicht ist es schlimmer « , dachte er laut nach, » ein Leben ohne Bedeutung zu führen. Ein Leben, das verschwendet ist. «
» Verschwendet « , flüsterte sie.
» Ja. Du hast doch gesagt, in all deinen Visionen über Harlan sei es immer so gewesen, dass er noch ein kurzes, erbärmliches und zügelloses Leben geführt habe, nachdem du ihn davon abgehalten hattest, freiwillig in den Krieg zu ziehen. «
» Ja « , entgegnete Sibyl und wartete darauf, dass er seinen Gedanken zu Ende führte.
» Und wir müssen zugeben « , sagte Benton, der seine Worte genau abwägte, » dass das keine allzu große Überraschung ist. Nach dem, wie die Dinge in letzter Zeit für ihn so gelaufen sind. «
» Aber ich kann einfach nicht akzeptieren, was Papa gesagt hat. Nach seiner Meinung ist alles vorbestimmt, und uns bleibe gar nichts anderes übrig, als uns unserem Schicksal zu ergeben. Warum kann nicht alles anders laufen? Warum kann Harlan nicht einfach hierbleiben und glücklich sein? «
Benton stand auf, ging zu dem Globus am Fenster hinüber und legte eine Hand darauf. Nachdenklich versetzte er ihn in Bewegung.
» Ich weiß nicht « , meinte er schließlich. » Ich gehe wissenschaftlich an die Dinge heran, Sibyl. Und ich glaube nicht an Gott, jedenfalls nicht in der Weise wie dein Vater. Aber ich glaube an Newton. Wenn ich diese Kaffeetasse hochhebe und loslasse, dann glaube ich daran, dass sie herunterfällt. Ist das Vorsehung? Nein, sie gehorcht einfach nur den Gesetzen der Physik. Aber das tun wir auch. Es gibt einfach keine unendlichen Möglichkeiten im
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